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Abenteuerland

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Das Abenteuer begann schon mit dem Namen: Gloucestershire. Niemand kann das aussprechen, wenn er es nur gelesen hat: „Glosster-schöhr“. So wie das Worcester aus der Worcestersauce auch nur „Wuhsster“ gesprochen wird, heißt Gloucester „Glosster“. Ich bin als Schüler ein Jahr lang dort gewesen, im Südwesten von England, an der Grenze zu Wales. Für mich war das ein riesiges Abenteuer. Prägend. Toll. Ich konnte mir seitdem immer vorstellen, in England zu leben. Ich liebe es. Aber natürlich ist das mit dem Auswandern irgendwie immer nur ein halb garer Traum, der hochkommt, wenn mich irgendetwas nervt, das ich dann auf Deutschland schieben kann. Ich habe noch mal ein Jahr in Zürich gelebt, ansonsten war ich immer hier. Ich bin deutsch. Besonders angesichts der Tatsache, dass ich nicht nur Deutscher, sondern auch Grieche bin, muss man sagen: sehr deutsch. Wenn ich plötzlich auswandern müsste, dann hätte ich ein Problem.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



So wie meine Cousine Zoe. „Zoe“ heißt auf Griechisch „Leben“, und der Name steht ihr. Sie ist Leben, halleluja, das war sie immer schon, und wir kennen uns seit ihrer Geburt. Sie ist zwei Jahre jünger als ich, und wir sind quasi zusammen aufgewachsen, weil all unsere Familien jeden Sommer in dasselbe griechische Dorf fahren. Ihre Familie aus Athen, meine aus Hamburg. Und ihre in Zukunft aus Chartres, rund 100 Kilometer von Paris, weil ihr Mann dort einen Job bekommen hat. Er ist schon seit einem halben Jahr dort. Zoe und ihre Tochter Stella ziehen jetzt hinterher. Zoe hat begonnen, Französisch zu lernen, Stella wird anfangen, wenn sie dort in den Kindergarten kommt. Es wird alles fremd sein. Ein Abenteuer. Aber es wird ein anderes Abenteuer als mein Jahr in England. Weil sie nicht wissen, ob sie in einem Jahr zurückkommen oder in zehn. Oder nie. Und natürlich vor allem, weil sie es sich nicht ausgesucht haben. Sie sprechen die Sprache nicht. Sie waren vorher noch nie in Frankreich. Es geht nur darum, dass Zoes Mann Panagiotis dort einen guten Job bekommen hat. Er ist Ingenieur. In Griechenland musste der Konzern, für den er arbeitet, die meisten Mitarbeiter entlassen. Aber weil er so gut ist, haben sie weltweit in allen Filialen gefragt, ob jemand einen Job für ihn hat. Chartres hat sich gemeldet, und er ist sofort gegangen. Man muss ja Geld verdienen. Zoe hat ihren Job schon letztes Jahr verloren, und das lächerlich niedrige Arbeitslosengeld bekommt man in Griechenland nur zwölf Monate lang, danach gar nichts mehr. Die Rezession tötet alles Leben in Griechenland. Fünf Jahre nun schon. Zweieinhalb Jahre Sparprogramme. Es gibt kein Geld mehr und auch keine Hoffnung, weil die Wirtschaft gar nicht wachsen kann angesichts immer neuer, noch härterer Auflagen. In den Straßen von Athen stehen längst die ganz normalen Leute aus der ehemaligen Mittelschicht bei den Suppenküchen an.  

Also nach Chartres. Eine neue Sprache. Natürlich wird es einsam sein, allein zu Hause, ohne jemanden, dessen Sprache man spricht. Aber irgendwas muss man ja tun. 

Die Jugendarbeitslosigkeit in Europa hat längst katastrophale Größenordnungen erreicht. In Spanien und Griechenland ist jeder Zweite unter 26 ohne bezahlte Arbeit, in vielen anderen Ländern etwa jeder Dritte – in Italien, Portugal, Litauen, Bulgarien und der Slowakei zum Beispiel. Die Zahlen sind irrwitzig. Nur in Deutschland, Österreich und den Niederlanden sind es weniger als 10 Prozent, in den meisten eher 20. Wir leben hier zumindest noch auf einer Insel der Glückseligen. Alle anderen sind entweder schon ziemlich verbittert – oder sie tragen sich mit dem Gedanken zu gehen. Auszuwandern. Woanders zu arbeiten. „Dann gehe ich nach Australien“, ist in Griechenland ein stehender Begriff geworden. Eine Art Running Gag, obwohl er inzwischen nur noch wenig mit Gag und umso mehr mit Running zu tun hat: Wer nicht auswandern will, hat zumindest das Gefühl, er müsste. Zigtausende verlassen das Land, und in der Regel sind es diejenigen, die das Land am dringendsten gebrauchen könnte – wenn irgendwann mal wieder irgendetwas ginge.  

Zu gehen ist ungeheuer schwer, wenn man muss. Aber die Griechen müssen. Die Spanier müssen. Die Portugiesen müssen. Besonders die Absolventen technischer Studiengänge zieht es aus Südeuropa weg – gern auch nach Deutschland.  

Griechen sind keine großen Touristen. Urlaub machen Griechen in Griechenland. Es gibt viele Auslandsgriechen aus mehreren Wellen Auswanderung und große griechische Gemeinden zum Beispiel in Australien, den USA und Großbritannien. Griechenland war schließlich immer arm und oft in politische Verwerfungen verwickelt, seit der Besetzung im Zweiten Weltkrieg auch noch durch einen blutigen Bürgerkrieg und eine Militärdiktatur in den Siebzigerjahren. Geschichte ist etwas, das den Griechen näher ist, als man es in Deutschland gewöhnt ist. Vielleicht liegt es daran, dass das Land so klein ist und regelmäßig eher Spielball als Akteur der Geschichte. Meine Generation, die Generation der erst im neuen Griechenland nach 1974 Geborenen, ist die erste seit Menschengedenken, in der es bisher keine politische Gewalt gab, keine Vertreibungen und keinen Grund, ins Exil zu gehen. Georgios Papandreou, der ehemalige Premierminister, unter dessen Regierung die wahren Defizitzahlen endlich veröffentlicht wurden, war nach seinem Großvater und seinem Vater schon der dritte Staatschef aus derselben Familie – aber der erste, der nicht wegen seiner politischen Überzeugungen gefoltert wurde. So nah ist Geschichte in Griechenland. Und jetzt plötzlich ist sie wieder da. Für viele junge Griechen fühlt sich die Notwendigkeit, im Ausland nach einer Arbeit zu suchen, an wie für ihre Väter und Großväter die Flucht vor Besetzung, Bürgerkrieg oder Junta: Sie können nichts für das, was Politik verbricht. Sie leiden nur darunter, samt ihren Familien, ihren Kindern, ihrer Zukunft. Und plötzlich wird der größte Luxus unserer Zeit – dass wir reisen und innerhalb der EU sogar frei überall leben können – zu einer echten Belastung: wenn man gehen muss. 

Ich musste lernen, den Namen des Ortes auszusprechen, in dem ich lebte. Das ist nichts. Ein Abenteuer, wie man eine Sommeraffäre ein Abenteuer nennt. Meine Cousine wird alles lernen müssen. Ganz neu. So ist Europa 2012. So ist das Leben: Zoe.

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