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"Sie haben während des Spiels die Regeln geändert"

Foto: Yasin Akgul/afp

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Internationale Politiker, die türkische Opposition und nun auch die OSZE erheben heftige Vorwürfe bezüglich des Ablaufs des Referendums am vergangenen Sonntag. Vor allem im Durchwinken ungestempelter Briefumschläge mit Wahlzetteln seitens der Wahlbehörde sehen viele einen deutlichen Hinweis auf Manipulation.

Aber wie folgenreich ist diese Kritik in einem Land wie der Türkei, in dem die Regierung seit Monaten im über den Ausnahmezustand legitimierten Alleingang herrscht? Was kann sie bewirken? Darüber haben wir uns mit dem Türkei-Experten Yaşar Aydın unterhalten. Er ist Migrations- und Türkeiforscher und lehrt unter anderem an Evangelischen Hochschule Hamburg.

jetzt: Herr Aydın, selbst wenn sich die Manipulations-Vorwürfe weiter erhärten sollten: Hat die türkische Regierung tatsächlich Konsequenzen zu befürchten?

Yaşar Aydın: Das ist schwer zu sagen, weil es keinen historischen Vergleich gibt. Zunächst einmal muss ich betonen, dass Wahlen in der Türkei bisher immer legitim verlaufen sind. Aber diesmal hat der Rat für Wahlangelegenheiten die Auszählung von Stimmzetteln aus nicht-gestempelten Briefumschlägen genehmigt. Und zwar während die Stimmen bereits gezählt wurden – das ist ein absolutes Novum! Und es macht sehr skeptisch, nicht nur die Opposition und das Ausland.

Was sollte Ihrer Meinung nach mit den ungestempelten Umschlägen bezweckt werden?

Sie haben während des laufenden Spiels die Regeln geändert. Diese Kurzschlussmaßnahme des Rates für Wahlangelegenheiten kann man als Hinweis darauf nehmen, dass jemand wegen eines möglichen unerwünschten Ausgangs des Referendums nervös geworden ist – und eingegriffen hat. Das kann ich zwar nicht beweisen, ich wüßte aber nicht, was die Wahlbehörde sonst zu diesem Schritt veranlasst haben könnte. Trotzdem rechne ich nicht damit, dass sie auf diese Kritik eingehen wird.

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Migrations- und Türkeiforscher Yaşar Aydın lehrt an der HafenCity Universität Hamburg und an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie.

Foto: Kerim Arpad/DTF Stuttgart

Sie erwarten also keinerlei Rechtfertigungsdruck für Präsident Erdoğan?

Bisher perlen die Vorwürfe aus dem Ausland an ihm ab. Falls sich allerdings der Druck von außen mit einem Druck von innen verbindet, könnte er durchaus Probleme bekommen.

 

Was meinen Sie damit genau?

Auch innerhalb der AKP gibt es Gruppen, die unzufrieden mit Erdoğans Repressionskurs sind. Außerdem hat in vielen wirtschaftlich relevanten Städten die "Hayir"-Fraktion eine Mehrheit erlangt. Wenn dort die Unterstützung bröckelt, wo ein Großteil des türkischen Bruttosozialproduktes erwirtschaftet wird, wird es brenzlig. Und die Wirtschaft schwächelt ja schließlich, der Tourismus ist eingebrochen, wichtige Handelspartner wie die EU ziehen sich zurück. Falls also Unternehmerschaft und Teile der eigenen Partei genug von all dem haben und ihr Vertrauen entziehen, wird Erdoğan sich anpassen müssen.

 

"Von einer absoluten Gleichschaltung würde ich noch nicht sprechen"

 

Sie glauben also doch, dass der türkische Rechtsstaat in dieser Hinsicht noch funktionsfähig ist und Kritik fruchten kann?

Natürlich gibt es in der Türkei erhebliche Mängel bezüglich der Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung – von einer absoluten Gleichschaltung würde ich aber noch nicht sprechen. Der nun um weitere drei Monate verlängerte Ausnahmezustand verleiht dem Staatspräsidenten und der Exekutive allerdings einen ungeahnten Zugriff auf andere Institutionen, was deren Handlungsmöglichkeiten einschränkt. Die Verlängerung beweist aber auch, dass Erdoğan sich ohne den Ausnahmezustand offenbar gefährdet sieht.

 

Wie sieht es denn in der breiten Bevölkerung aus? Gibt es da nur ungebrochenes Vertrauen, oder vielleicht auch Zweifel innerhalb der AKP-Wählerschaft?

Ich denke schon, das zeigt ja allein das Ergebnis des Referendums. Die national-konservativen Kräfte hatten bei der vergangenen Parlamentswahl einen Stimmanteil von über 60 Prozent. Nun liegt die "Evet"-Fraktion bei gerade mal 51 Prozent – und das vermutlich auch nur mithilfe der genannten Manipulationsmethoden. Dieser Stimmverlust zeigt doch, dass die Skepsis groß ist und wächst, auch innerhalb der AKP-Unterstützerschaft. Ich halte es durchaus für möglich, dass sich diese Skeptiker in Zukunft um eine andere Persönlichkeit sammeln, als um Erdoğan.

 

Wer könnte das sein?

Von Erdoğan an den Rand gedrängte Figuren wie Ex-Präsident Abdullah Gül und der ehemalige Außenminister und Premier Ahmet Davutoglu haben im Vorfeld des Referendums demonstrativ keine Werbung für die "Evet"-Fraktion gemacht und AKP-Wahlkampfveranstaltungen gemieden. Ein ehemaliger Berater von Davutoglu hat sogar öffentlich für "Hayir" plädiert und in Zeitungsartikeln vor dem kommenden Präsidialsystem gewarnt. All das könnte man als Vorbereitung eines politischen Comebacks dieser verdrängten Figuren deuten. Aber das ist bisher natürlich Zukunftsmusik.

 

"Viele Türkischstämmige haben das 'Hayir'-Engagement deutscher Politiker als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei verstanden"

 

In Deutschland ist das Ergebnis zugunsten Erdoğans weit deutlicher ausgefallen als in der Türkei. Manche erklären sich das auch über die Angst potentieller "Hayir"-Wähler, ein türkisches Konsulat zu betreten. Viele seien der Abstimmung deswegen ferngeblieben. Können Sie diese Vermutung bestätigen?

Das entspricht nicht meinen Beobachtungen. Es ist zwar möglich, dass manche aus Angst ferngeblieben sind. Das deutsche Ergebnis deckt sich allerdings relativ deutlich mit den Zahlen der vergangenen Wahlen und hat mich nicht überrascht.

 

Wie erklären Sie sich die diese deutliche "Evet"-Mehrheit auf Seiten der deutsch-türkischen Wähler?

Mein Eindruck ist, dass viele der Wähler sich von einer Art Solidaritätsseffekt haben anstecken lassen. Viele Türkischstämmige in Deutschland haben das "Hayir"-Engagement deutscher Politiker als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei verstanden und sich daraufhin erst entschlossen, aus Trotz ihr "Evet" abzugeben. Und natürlich hat die türkische Regierung diese Tendenzen angefeuert und von den Feinden im Ausland schwadroniert, welche die Türkei angeblich schwach und klein halten wollen.

 

Halten Sie das Engagement deutscher Politiker also im Nachhinein für falsch? Hätten sie lieber schweigen sollen?

Natürlich bin ich ein Freund der Kritik an den Missständen in der Türkei. Der Druck von außen ist – wie bereits erwähnt – enorm wichtig. Ich halte es aber schon für problematisch, wenn deutsche Bundestagsabgeordnete öffentliche Empfehlungen für eine Abstimmung in einem anderen Land aussprechen. Solche Aussagen, sowie die pauschale Dämonisierung der Einzelperson Erdoğan, spielen genau denen in die Karten, die man eigentlich angreifen will.

 

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