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Von Nerds und Neurotikern

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"For a generation of postwar middle-class Americans, being neurotic meant something more than merely being anxious, and something other than exhibiting the hysteria or other disabling mood problems for which Freud used the term. It meant being interesting (if sometimes exasperating) at a time when psychoanalysis reigned in intellectual circles and Woody Allen reigned in movie houses."


Wo steht das?

In einem Artikel, der vergangenen Sonntag in der New York Times erschien: „Where have all the Neurotics gone?“ fragt der Medizinjournalist Benedict Carey und beschreibt das Verschwinden einer kulturellen Figur, die einst überall ein willkommener Partygast war: der Neurotiker.


Und was soll das Ganze?

Man kann nicht einfach auf die Straße oder in die WG-Küche rennen und jedem erzählen, was man für ein Idiot ist. Das stellte das Stammmilieu von WG-Küchen immer vor ein Problem: Denn jedem zu erzählen, dass man kein Idiot ist, sondern supertoll, gilt dort als zutiefst unsympathisch. Außerdem will man dort seine schlechten Seiten auch gerne herausposaunen, um sich zu befreien – und sich von anderen die Bestätigung abzuholen, dass die schlechten und die guten Seiten ja sowieso zur gleichen Medaille gehören: Alles in allem ist man ganz gut so, wie man eben ist.

Diese komplizierte Gemengelage hätte jede WG-Küche sofort explodieren lassen, hätte man sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner einigen können: eine Selbstbeschreibung, die all das enthält und die jeder versteht. Dieser Nenner war eine Zeit lang der Neurotiker. „Hey“, sagte der Neurotiker, „ich bin superanstrengend, aber natürlich nur auf eine sexy Art!“ – „Saying ‚she’s neurotic‘ implies a difficult, self-conscious personality“, schreibt Carey, „without giving a precise medical label.“

Das war die Romantik der Neurose: Dass jemand schwierig war, hing unmittelbar damit zusammen, dass er reflektiert war. Als Gründe für das Verschwinden dieser Romantik nennt Carey in seinem Artikel zwei Dinge: Das psychologische Vokabular hat sich verändert und lässt nun nur noch wenig Raum für so vage Beschreibungen wie die der Neurose. Außerdem haben gesellschaftliche Änderungen Neurotizismus als Distinktionsmerkmal unbrauchbar gemacht. Heute, so Carey, sind wir sowieso offensichtlich alle so neurotisch, dass es keinen Sinn mehr ergibt, einen einzelnen als Neurotiker hervorzuheben.

Der Bedarf nach einem Begriff, auf den wir unsere Schwächen als versteckte Stärken projizieren können, ist jedoch geblieben. Was ist es, was wir heute leichtfertig angeben zu sein, weil wir damit unsere Schwächen als interessant verkaufen können? Die Psychologie scheint hierfür als Begriffshabitat nicht mehr gefragt – ADHS wäre ein Kandidat gewesen, der die Neurose als Partyschmuck hätte ersetzen können, es kam glücklicherweise nicht dazu. Prokrastination war sehr erfolgreich, aber deckte nicht genug Charakterzüge ab.

Stattdessen hat in den letzten fünfzehn Jahren eine Zuschreibung aus der technokulturellen Welt dieses Feld für sich erobert: Es braucht nicht besonders viel Chuzpe oder Vorstellungskraft, um zu behaupten, dass, wer sich zu Woody Allens Hochzeiten als Neurotiker beschrieben, gesehen und vermittelt hat, heute der erste wäre, der allen erzählt, was für ein totaler Nerd er sei. Wir reden manchmal viel zu viel, und dann wieder viel zu wenig und verlassen das Haus nicht, dauernd sind wir unsicher und drucksen herum, und das letzte Date lief mehr als unglücklich. Trotzdem sind wir nicht einfach irgendein Verlierertyp, der es nicht auf die Reihe kriegt, nein, wir sind gerade auch wegen all dem superinteressant – denn wir sind Nerds. Soziale Inkompetenz einerseits, aber Enthusiasmus, exklusives Wissen, Avantgarde andererseits: Der Nerd ist die Medaille zu diesen beiden Seiten.

Wer wirklich ein Nerd ist und was genau das heißt, spielt dabei keine Rolle – genauso wenig wie die Frage, ob der alte kulturelle Neurotiker tatsächlich im psychoanalytischen Sinne unter einer Neurose litt. „In today’s era of exquisite confusion — political, economic and otherwise — the neurotic would be a welcome guest”, schreibt Carey etwas sehnsüchtig, “nervous company for nervous days, always ready to provide doses of that most potent vaccine against gloominess: wisecracking, urbane gloominess.” Heute, könnte man ihm antworten, gibt der Nerd uns dafür eine tröstende Antwort auf unsere Unsicherheit: enthusiastische, urbane Unsicherheit.

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