Wo steht das?
In Nora, dem neuen Roman von Pia Frankenberg. Die in New York lebende Autorin hat bereits die beiden Romane „Die Kellner und ich“ und „Klara und die Liebe zum Zoo“ veröffentlicht und arbeitet auch als Regisseurin.
Nora ist in den Vierzigern und arbeitet als freischaffende Übersetzerin in New York. Vor über 20 Jahren ist sie aus Deutschland in den Big Apple gekommen. Dort lebt sie in wilder Ehe, hat zahllose Affären aus Angst, alt zu werden und sich fest zu legen. Im Lauf der Geschichte tauchen immer wieder Fetzen aus ihrer Vergangenheit auf. Allmählich wird deutlich, dass Terror in Noras Leben eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Amy ist eine junge Witwe. Ihr Mann hat am 11. September 2001 im World Trade Centre gearbeitet und die Anschläge nicht überlebt. Mit Richard hat Amy zwei kleine Töchter, um deretwillen sie nach dem Anschlag versucht, ihr Leben zu meistern. Der Alltag mit zwei Kindern und einem Haushalt führt ihr jedoch immer wieder schmerzlich vor Augen, wie sehr ihr Mann ihr fehlt.
Nora sieht Amy zum ersten Mal im Fernsehen – in einem Beitrag zum 11. September spricht die junge Frau über den Verlust ihres Ehemannes durch die Anschläge. Fortan bekommt Nora das Bild der jungen blonden Frau nicht mehr aus ihrem Kopf. Als sie im Supermarkt zufällig mit ihr zusammenstößt, beginnt Nora, Amy zu verfolgen und zu beobachten. Amys Alltag wird immer mehr zu Noras Hauptbeschäftigung, sie folgt ihr auf den Spielplatz, beim Einkaufen und wenn sie sich verabredet.
Die Geschichte ist abwechselnd aus der Sicht von Nora oder Amy erzählt. Während Amy versucht, die Trauer zu überwinden, verstrickt Nora sich tief in eine neue Affäre. Durch die Gleichzeitigkeit des Erzählens entsteht der Eindruck, die beiden wüssten von einander und kennen sich. Tatsächlich finden zwischen den Frauen aber nur zwei bewusste Begegnungen statt: Als sie sich beim Einkaufen kennen lernen und gegen Ende der Geschichte, als Nora unter einem Vorwand bei Amy zu Hause auftaucht.
Aber: Nora verfolgt Amy, die gesamte Geschichte hindurch. Das Stalken findet mit einer erschreckenden Kontinuität und Selbstverständlichkeit statt. Stalking als Phänomen wird in dem Roman aus der Sicht der Täter behandelt – wie durch eine Glasscheibe oder in einem guten Kinofilm schaut Nora Amy bei ihrem Leben zu, besessen davon, ihr helfen zu müssen. Gleichzeitig bringt Nora nie den Mut auf, tatsächlich auf Amy zuzugehen und ihr bei der Bewältigung des Alltags zur Seite zu stehen.
Angenehm zu lesen ist das Buch, weil es sich ganz leise mit großen Themen auseinander setzt. Aus Stalken, dem 11. September oder Deutschland und der RAF hätte man auch mitreißende Standardthriller zusammenbauen können. Genau weil Pia Frankenberg das nicht macht und trotzdem nicht oberflächlich bleibt, ist "Nora" ein tolles Buch.
Steht im Regal zwischen: "Paradies" von A.L.Kennedy und "Die Kellner und ich", einer autobiographisch Kindheitserinnerung von Pia Frankenberg.
Nora von Pia Frankenberg, 249 Seiten, 18,90 Euro. Erschienen im Rowohlt Verlag.