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Leben - ein Mosaik aus Vergangenheit und Gegenwart

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Angestrichen: „Wir sind hier nicht in Ostberlin!“, hatte die Großmutter gesagt. „Das sind wir wirklich nicht, meine Liebe!“, hatte der Großvater gelacht. Und Anna hatte sich in ihrer Ritze die größte Mühe gegeben, schlafende Anna zu spielen. Wo und was ist Ostberlin? Wo war der Geruch nach Johanniskrautöl geblieben? Wieso hörte sich das Lachen ihres Großvaters auf einmal wie ein Bellen an? Anna presste ihre Lider so fest wie möglich zusammen, und schon fing die Verwandlung an: Von einer Sekunde auf die andere wurde es kalt im Zimmer, eiskalt und still. (...) So ruhig wie möglich atmete sie aus und ein: Kein Zweifel, es roch nach Winter, nach Eis, nach Schneesturm. Wo steht das denn: In Katja Hubers Debütroman „Fernwärme“, dessen Titel so gut zum russischen Frost vor der Tür passt, von dem gerade alle sprechen. In der russischen Provinz, in der das Buch zum Teil spielt, ist es allerdings heiß: 35 Grad. „Für einen Astrachaner Sommer ist das noch gar nichts. Es wird noch viel heißer.“ Das sagt jedenfalls die Babuschka, die Anna und ihrer Freundin Vera im Zug von Volgograd nach Astrachan gegenübersitzt und zu ihren Hühnern spricht. Aber zurück zu Katja Hubers Roman „Fernwärme“, in dem es nicht um Temperaturen, sondern um Anziehungskraft und Unverständnis zwischen Russen und Deutschen geht. Und vor allem darum, wie sich Vergangenheit und Gegenwart immer wieder überschneiden, überlagern und vermischen und unser Leben im Hier und Heute mitbestimmen. „Klingeln. Eins kurz, eins lang. Klingeln kann jeder. Immer. Aber nicht jeder klingelt zu jeder Uhrzeit.“ So beginnt Annas Geburtstag und so beginnt – nach einem Prolog, in dem Annas Großmutter durch Ostberlin läuft, um für sich und ihren gerade erst aus Russland und den Kriegswirren heimgekehrten Mann Medikamente, Brot und Kohlen zu organisieren – Katja Hubers „Fernwärme“. Es ist fünf nach sechs am 20. Juni 200X, als Igor an Annas Tür klingelt und ihren Geburtstag ziemlich durcheinander bringt. Denn Igor stellt sich als Annas Cousin vor, von dem sie bis zum Morgengrauen ihres Geburtstags nichts wusste. Katja Huber, 34, die bereits Hörspiele und Kurzgeschichten geschrieben hat und als Journalistin für den Bayerischen Rundfunk arbeitet, erzählt auf den folgenden knapp 140 Seiten eine Mehrgenerationengeschichte. Allerdings keine, die bei Oma und Opa und ihren Liebes– und Lebens-Wirrungen beginnt, um dann irgendwann bei Annas Leben im Jahr 200X zu enden. Bei Katja Huber hüpfen die Perspektiven, die Zeiten und die Orte, so dass einem beim Lesen manchmal ganz schwindlig wird und man nicht genau weiß, wo man gerade ist. Auf Igors Klingeln an Annas Tür in München folgt ein Weckerklingeln in Volgograd, wo Anna ihre schwangere Studienfreundin Vera besucht und nach Astrachan begleitet. Von der geschminkten Vera, die neben Anna im Zug nach Astrachan sitzt, geht es zurück nach München, zu Annas bester Freundin, die mit Anna die Verlobung mit ihrem Freund durchspielen will. Von dort zu Annas Großvater in Russland, der auf einem Bahnhof in Astrachan Abschied von seiner russischen Geliebten (Igors Großmutter) nimmt, weil er in die Heimat und zu seiner Frau zurück will, um dort russische Bücher zu veröffentlichen und den Menschen in der sowjetischen Besatzungszone die russische Kultur nahe zu bringen. Schnitt – Küche München, in der Anna und Igor Tee trinken – Schnitt – Igor, der sich von Russland nach Berlin aufmacht, um Hinweise auf das Leben seines Großvaters zu finden – Schnitt - Anna und ihre Großmutter, die auf Münchenbesuch ist – Schnitt – Annas Freund Rainer kommt zum Geburtstag feiern und ist auf Igor eifersüchtig – Schnitt – Schnitt – Schnitt. Am Ende des Buches erscheint einem das Leben als flüchtiges Mosaik, das sich aus lauter einzelnen Geschichten, Episoden und Begebenheiten zusammensetzt, aus vergangenen genauso wie aus gegenwärtigen. Und bei all den Orts- und Zeitwechseln ist insgesamt gerade mal ein Tag vergangen – Annas Geburtstag: „»Igor?«, rufe ich, aber der antwortet nicht. »Großmutter?«, rufe ich, aber die antwortet nicht. Ich gehe in die Küche und setze mich. Woher kommt die Teetasse auf dem Tisch? Ich erinnere mich nicht.“ So endet Annas Geburtstag und so endet „Fernwärme“. Genauso rätselhaft und geheimnisvoll, wie beides begonnen hat. Fernwärme von Katja Huber, 141 Seiten, ist im P. Kirchheim Verlag erschienen und kostet 15 Euro. Am Mittwoch, 25. Januar 2006, liest Katja Huber auf dem Hausmusik Festival in München im „Harry Klein“ und am Samstag, 18. März 2006, liest sie auf der Leipziger Buchmesse. Cover: P. Kirchheim Verlag

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