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Gedicht an den Attentäter

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Angestrichen:

you don’t know how precious your iphone battery time was until you’re hiding in the bottom of the boat. (...)
you don’t know how things could change so incredibly fast. (...)
you don’t know how to mourn your dead brother.

Wo steht das?

Auf dem Blog der US-Sängerin Amanda Palmer, auf dem seit Sonntag ein flammender Streit um die Grenze zwischen Mitgefühl und Geschmacklosigkeit tobt. Palmer wurde vor gut zehn Jahren berühmt mit ihrer Band The Dresden Dolls und ist heute Solokünstlerin. Ursache des Streits ist die Überschrift zu dem Blogpost: "a poem for dzhokhar", ein Gedicht für den jüngeren der mutmaßlichen Attentäter von Boston (in der deutschen Schreibweise Dschochar Zarnajew). Der war am Freitagabend in einem Bostoner Vorort in einem abgestellten Boot festgenommen worden.  

Was steht da noch?

Palmers "Gedicht" besteht aus insgesamt 35 Sätzen, die allesamt mit "you don’t" beginnen und sich an einen offenbar verwirrten und völlig überforderten Menschen richten, der wie das Opfer sehr vieler tragischer Umstände wirkt. Er weiß nicht, wie er wegkommen soll von seinen "fucking parents"; wie er bloß "in diese Falle" tappen konnte; wie man "dieses Auto fährt". Er weiß nicht mal, "wie viele vietnamesische Soft Rolls" er bestellen soll.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Was will sie damit sagen?

Genau über diese Frage streiten sich gerade hunderte Fans und empörte Amerikaner auf Twitter und im Kommentarfeld des Blogs. Während die einen das Gedicht als einen abstrakten Aufruf zu mehr Mitgefühl verstehen, das jeder verdient hätte, sogar ein Schwerverbrecher, hält der Großteil der Kommentatoren Palmers Text für einen Schlag ins Gesicht der Opfer – und ein perfides Mittel, sich als Künstlerin Aufmerksamkeit zu sichern.  

Was Amanda Palmer wirklich mit dem Gedicht sagen will, hat sie bisher nicht so richtig klargestellt. Auf die ersten empörten Kommentare reagierte sie so: "Das hier geht nicht um mich. Oder ihn. Es geht im Grunde um uns alle." Dass sie sich mit dem Gedicht in der zweiten Person direkt an den Attentäter richte, stritt sie ab: "Das 'Du' ist nicht er. Lest nochmal." Allerdings haben Passagen wie "hiding in the bottom of the boat" und "dead brother" so deutlichen Bezug zu Zarnajew, dass es den meisten Lesern schwer fallen dürfte, das zu glauben.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Amanda Palmer weiß, wie man im Internet viel Wind produziert.

Und was heißt das jetzt?

Die Debatte dreht sich im Kern um einen alten Streitpunkt in der Rezeption von Literatur: Wie wörtlich darf man ein künstlerisches Werk nehmen? Ist es Überinterpretation, ein "Du" in Verbindung mit dem Vornamen eines mutmaßlichen Mörders als Sympathiebekundung an einen Terroristen zu lesen?  

Die Vorgeschichte von Palmer trägt jedenfalls nicht gerade dazu bei, den Vorwurf des geschäftstüchtigen Opportunismus zu entkräften: Erst im vergangenen Herbst hatte die Sängerin sich einen veritablen Shitstorm in der Indierock-Szene eingehandelt, nachdem sie zunächst mit einem Spendenaufruf 1,2 Millionen Dollar für ihr neues Album gesammelt hatte – und anschließend unter ihren Fans nach Musikern suchte, die sie während der Tournee auf der Bühne unterstützen könnten, die sie aber nur mit Freibier, Umarmungen und High Fives bezahlen würde.  

Das Prinzip Crowdfunding hat Amanda Palmer auch in dieses Gedicht eingebaut: Direkt unter dem Blogeintrag hat sie einen Spendenfonds für die Opfer des Boston-Attentats verlinkt. Allerdings, und das treibt viele Kritiker endgültig an die virtuelle Decke, findet sich direkt darunter noch ein zweiter Donate-Button. Mit dem bittet Palmer um Spenden für sich selbst. Eine angemessene Summe hat sie in das Fenster gleich standardmäßig eingetragen: fünf Dollar.

Text: jan-stremmel - Foto: Shervin Lainez

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