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Flüssig, aber umstritten

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Angestrichen:
Wir wollen aber nicht für die gesellschaftliche Etablierung von scheinbar demokratischen Verfahren stehen oder verantwortlich sein, die durch die Teilnehmer selber nicht überprüft werden können. Da wir im Sinne aller anderen Nutzer unserer Software die liberale Lizenzpolitik nicht ändern wollen, können wir einen weiteren Einsatz bei der Piratenpartei nicht verhindern. Daher distanzieren wir uns vom Einsatz unserer Software bei der Piratenpartei Deutschland und ihren Untergliederungen.

Wo steht das denn?
Auf dem Blog der Entwickler der Liquid Feedback-Software, die die Piratenpartei für ihre innerparteilicher Willensbildung nutzt. Am Montag, einen Tag nach der Mitgliederversammlung der Berliner Piraten, stellten sie den Blogeintrag ins Netz.

Worum geht es da?
Es geht um die Frage, wie die Piratenpartei eines ihrer größten Versprechen umsetzen will: Eine Mitmach-Partei zu sein. Das einfache Parteimitglied soll nicht nur Wahlvieh sein, das Vorschläge aus der Parteispitze irgendwann abnickt oder sich mit dem abfinden muss, was auf Parteitagen beschlossen wird. Die Piraten wollen eine Partei mit aktiven Mitgliedern sein, die sich einbringen, den Vorständen und ihren Abgeordneten in den Parlamenten ihre Meinungen und Ideen mitteilen. In ihrem Grundsatzprogramm schreiben sie: „Die digitale Revolution ermöglicht der Menschheit eine Weiterentwicklung der Demokratie“, die Partei sehe es deshalb als ihre Aufgabe, „die Anpassung der gelebten Demokratie in der Bundesrepublik an die neuen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts anzupassen und zu gestalten“.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Pirat bei der (liquiden) Arbeit

Als Werkzeug für diese Gestaltung wählten sie die Software Liquid Feedback. Auf der Plattform kann jeder seine Anträge einbringen, an Anträgen anderer mitschreiben und darüber abstimmen. Die Software erlaubt es auch, die eigene Stimme an jemand anders zu delegieren. Nur: Die Entwickler dieser Software sind längst nicht mehr einverstanden mit der Art und Weise, wie die Piraten sie nutzen.

Sie stören sich daran, dass die Piraten in ihren Abstimmungsverfahren Pseudonyme zulassen. Das mache die Abstimmungen für die Mitglieder nicht nachvollzieh- und überprüfbar. „Blindes Vertrauen zu verlangen, entspricht nicht demokratischen Prinzipien“, schreiben die Liquid-Feedback-Entwickler; sie befürworten Abstimmungen unter Klarnamen.

Der Streit beruht auf einem Grunddilemma der politischen Willensbildung mit Online-Verfahren: Geheime und überprüfbare Wahlen kann es online nicht geben. Anonymisierungen bieten immer Ansatzpunkte für Manipulationen, völlige Überprüfbarkeit lässt sich ohne Klarnamen nicht erreichen. Ein Opfer muss man also bringen. Nur welches?

Die Auseinandersetzung zwischen Piraten und den Software-Entwicklern dauert schon länger an. Immer wieder brachten diese ihre Bedenken vor, ihrer Mitgliedschaft in der Partei haben sie längst ein Ende gesetzt. Am Wochenende aber geschah etwas, das sie dazu veranlasste, sich mit ihrem Blogeintrag noch einmal ganz deutlich und öffentlich vom Einsatz ihrer Software durch die Piraten zu distanzieren: Die Berliner Piraten haben beschlossen, mit Hilfe von Liquid Feedback auch verbindliche Beschlüsse von Positionspapieren zu treffen, und das Meinungsbild der Basis nicht mehr nur als Empfehlung anzusehen.   Die Piraten sehen die Distanzierung gelassen oder kommentieren sie mit Unverständnis. Jörg Blumtritt, stellvertretender Pressesprecher twitterte, die Distanzierung erinnere ihn „an Herrn Dunlop, der meinte, Gummireifen seien für Autos völlig ungeeignet“.

Es wird noch dauern, bis klar ist, welches System sich durchsetzt. Da ist sich auch Sebastian Jabbusch sicher. Er ist Mitglied der Berliner Piraten und hat seine Magisterarbeit über Liquid Democracy geschrieben. „In manchen Landesverbänden gibt es eine Tendenz zu Klarnamen, in manchen zu anonymisierten Verfahren. Entscheidend wird der Bundesparteitag im November sein.“ Er selbst ist ein Freund der Klarnamen-Lösung: „Wer politischen Einfluss nehmen will, muss das transparent machen, das ist ja auch der Anspruch, den wir an alle Abgeordneten im Bundestag erheben. Entweder man steht für eine Position ein – oder man hat sie nicht.“

Die Weiterentwicklung der innerparteilichen Willensbildung ist jedenfalls eine der zentralen Baustellen der Piratenpartei. Hier wird sich entscheiden müssen, ob sie ihren Ansprüchen gerecht werden können. Ohne Liquid Feedback, so sagte Michael Hilberer, Fraktionschef der Saarland-Piraten zu Spiegel Online, seien die Piraten „eine Partei wie jede andere“. Im Bundesvorstand allerdings ist man sich uneins darüber, wie weit man es mit der Basisdemokratie überhaupt treiben soll, wie verbindlich das sein soll, was die Basis via Liquid Feedback beschließt. Soll man das als unverbindliche Empfehlung betrachten oder als bindende Weisung? Geschäftsführer Johannes Ponader ist Fan der flüssigen Demokratie und will sich bei Abstimmungen im Vorstand den Beschlüssen der Basis beugen. Parteichef Bernd Schlömer ist davon weniger begeistert.

Ganz gleich, wie diese Debatte ausgeht, ein weiteres Problem ist der Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Es wirken weit weniger Piraten aktiv mit, als man sich ursprünglich erhofft hatte. Es dauerte lange, bis die Parteimitglieder ihre Zugänge zu Liquid Feedback bekamen, manche warteten Monate. Und von denjenigen, die drin sind, fühlt sich kaum einer berufen, selbst Anträge einzubringen. Nur ein kleiner Prozentsatz bringt überhaupt Vorschläge in Liquid Feedback ein, was auch Christopher Lauer am Wochenende in Berlin in einer Rede an seine Parteimitglieder anprangerte. Er war es allerdings auch, der vor kurzem den Groll seiner Parteikollegen auf sich zog, als er eigenmächtig, ohne Legitimierung durch die Basis, einen Gesetzesentwurf zum Urheberrecht vorlegte.

Es ist vieles noch nicht ausgehandelt in Punkto Basisdemokratie und Liquid Feedback. 


Text: christian-helten - Foto: dpa

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