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Dinge regeln, Domain verlieren? Über den Umgang mit Post
Angestrichen:
In jedem Fall gilt die Dreierregel: Briefe werden erst dann geöffnet, wenn der dritte derselben Sorte gekommen ist. (...) Grundsätzlich reicht es aus, Post im Zweimonatsrhythmus zu bearbeiten. Mit etwas gutem Gespür und Antizipation lässt sich dieser Zeitraum auf ein Vierteljahr ausdehnen.
Wo steht das denn?
Im Alltags-Kapitel des Buchs "Dinge geregelt kriegen - ohne einen Funken Selbstdisziplin" von Kathrin Passig und Sascha Lobo. Das Buch ist 2008 erschienen, in diesem wilden Januar 2011 bekommt es aber eine neue Bedeutung. Denn offenbar hat der Berliner Blogger Rene Walter etwas zu ernst genommen, was Passig und Lobo zum Umgang mit offizieller Post raten.
Rene Walter betreibt das äußerst beliebte Blog nerdcore.de (zur Zeit erreichbar unter der Adresse www.crackajack.de). Dort hat er im Jahr 2006 (wie andere auch) kritisch über die Geschäftspraktiken der Düsseldorfer Firma Euroweb berichtet. In einem Interview erklärt Rene, was dann passierte: "Ich wurde im Sommer letzten Jahres von Euroweb abgemahnt weil ich sie als die Arschgeigen bezeichnet habe, die sie sind." Und dann schiebt er einen Satz nach, der eine klare Verbindung zu Passig/Lobos Buch erkennen lässt: "Und ich hab mich um die Abmahnung nicht gekümmert."
Offenbar hat Rene sich aber um mehr als nur um die Abmahnung nicht gekümmert. Auch einen Termin vor dem Landgericht Tiergarten ließ er verstreichen und reagierte auch auf dessen Urteil nicht, das ihm eine Zahlung von 2000 Euro an Euroweb auferlegte. Die er ebenfalls zunächst nicht leistete. Deshalb ließ Euroweb die Domain nerdcore.de pfänden, wie deren Geschäftsführer Christoph Preuß im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung bestätigt: "Ja, Euroweb hat nerdcore.de." Das kann man auch auf der Startseite sehen, wo die Euroweb ihr Logo zeigt und den Fall aus ihrer Sicht skizziert.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die Firma will die Domain in Kürze für einen gemeinnützigen Zweck versteigern. Das Problem dabei: Diejenigen, die Euroweb mit dem Erlös bedenken will, haben bereits abgelehnt. Der Journalistenverband Freischreiber äußert sich auf seiner Webseite so zu dem Fall: "Wir aber haben das Gefühl, dass hier mit ziemlich dicken Kanonen auf zierliche Spatzen geschossen wird. Und davon möchten wir nicht profitieren. Und wir möchten auch nicht, dass sich der Kanonier mit einer Spende an Freischreiber ein moralisches Mäntelchen für eine klassische Überreaktion umhängen kann." Und auch bei Wikipedia, die ebenfalls mit einer Spende bedacht werden sollte, formiert sich Widerstand.
Der Fall hat sich zu einem großen Web-Aufreger entwickelt, der in zahlreichen klassischen Medien (von FAZ bis Focus) Niederschlag gefunden hat - und sich in den nächsten Tagen sicher noch weiter entwickeln wird. Mittlerweile hat Rene wohl den Betrag überwiesen und einen Anwalt eingeschaltet, um die Domain nerdcore.de zurückzubekommen. Euroweb-Geschäftsführer Preuß hält unterdessen an den Plan fest, die Domain zu versteigern.
Und allen, die den Berlinern Passig und Lobo jetzt eine Mitschuld am Fall Euroweb vs. Nerdcore zuschreiben, sei die genaue Lektüre ihres Buchs empfohlen. Denn immerhin steht in dem Anti-Briefekapitel ("nicht umsonst unterscheiden sich Pest und Post nur durch einen Buchstaben") auch der Hinweis: Man solle sich "zumindest darüber im Klaren sein, dass allzu nachlässige Bearbeitung der Kommunikation von vielen Menschen als Boshaftigkeit verstanden wird. Eventuell, so wollen wir eingestehen, nicht einmal ganz zu Unrecht."
Anders formuliert: Manchmal hilft es Dinge geregelt zu kriegen, wenn man Briefe auch schon öffnet, bevor der dritte derselben Sorte angekommen ist.