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Die Soziologie des Busens

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Angestrichen: Das Entfernen des Bikini-Oberteils ist keine einfache, natürliche und problemlose Geste, sondern reiht sich in einen historischen Prozess und ein Set von äußerst ausgefeilten Verhaltensregeln ein, die definieren, wer wozu das Recht hat und warum. Jede Körperhaltung, jede Art zu schauen, hat einen Sinn, jedem Busen wird entsprechend seiner Form und seinem Alter eine bestimmte Rolle in einem Spiel zugewiesen. Wo steht das: In einer soziologischen Abhandlung über Oben-ohne-Kultur am Strand mit dem Titel „Frauenköper-Männerblicke“, die der französische Wissenschaftler Jean-Claude Kaufmann auf 300 Seiten niedergeschrieben hat. Kaufmann befragte dazu mit seinem Team einige hundert Badende an den Stränden der Bretagne und der Cote d’Azur und strickte aus den gesammelten Antworten ein gesellschaftliches Busen-Panoptikum, das auch für den Nicht-Soziologen recht lesenswert ist.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Das Entblößen der Brust am Strand, das Ablegen des Bikini-Oberteils, ist ein Schritt, der so normal er inzwischen sein mag doch unterbewusst mit vielen Regeln und Verhaltensweisen einhergeht. Kaufmann fragt sie akribisch hintereinander ab: In welchem Altersfenster zeigen sich Frauen ganz selbstverständlich barbusig, welche Altersgrenzen werden von den ungeschriebenen Strandregeln und Ästhetiknormen gesetzt? Warum wird von den Strandbesuchern ein bewegter, nackter Busen als anstößiger empfunden, als wenn die Trägerin flach auf dem Rücken liegt? Warum greifen manche beim Gang ins Wasser zum Oberteil, so als wäre das vertikale Entblößen etwas anderes als das horizontale? (Antwort: Intuitives Fröstelempfinden) Darf barbusig Volleyball gespielt werden? (Antwort: Nur in Ausnahmefällen) Warum wird sowohl eine zu schöne Brust als auch eine unförmige als unzeigbar empfunden? (Antwort: Weil man sie in beiden Fällen anschauen muss.) Die Antworten findet Soziologe Kaufmann in den Erfahrungen und Schilderungen der befragten Barbusigen, die er vergleicht und aus denen er interessante Allgemeinverhalten und Häufungen ableitet. Zum Beispiel bei der Auswahl des Strandplatzes: In der Nähe von anderen Barbusigen, aber nicht zu nah, keinesfalls an exponierter Stelle und eher in Wassernähe (wegen der vertikalen Unsicherheit!), nicht bei Jungsgruppen und alten, alleinbadenden Männern. Leicht voyeuristische Blicke sind überwiegend geduldet, wenn sie von jungen Männern zwischen 20 und 40 Jahren kommen und werden dann quasi als biologische Unabänderlichkeit verschmerzt, wobei Blicke von älteren Männern sehr schnell als störend gelten. Solche selbstverständlichen Wahrnehmungen sind für den Soziologen eine wissenschaftliche Fundgrube, beim normalen Leser erzeugen sie immerhin einen unterhaltsamen „Aha“-Effekt oder ein ertapptes „Stimmt!“. Und man kreist mit dem Wissenschaftler die kniffligen Alltagsprobleme des Strandlebens ein. Ist es einfacher mit guten Freunden Oben-Ohne zu machen oder mit ganz Fremden? Wie empfindet man ein unerwartetes Zusammentreffen zum Beispiel mit Arbeitskollegen? Welche Vorzeigekriterien stellen Frauen an die öffentlichen Busen anderer Frauen? (Es sind die gleichen Kriterien, die die Männer anstellen!). Über diese ergründeten Strandrituale hinaus, werden die seit den 70er-Jahren verbreitete, nackte Strand-Brust in die Gesellschaftshistorie eingeordnet und abstraktere Fragen angedacht. „Wie kann man sich erklären, dass ein nackter Busen anderswo ein erotisches Objekt ist, nicht aber (zumindest theoretisch) am Strand?“ Und wo hört der Strand auf und fängt das Unziemliche an? So simpel das Phänomen, so vielfältig und komplex kann man sich daran abarbeiten und Autor Kaufmann macht das mit Sorgfalt und Ruhe, ohne zu langweilen mit aller gebotenen wissenschaftlichen Neutralität. Eine interessante Strandlektüre.

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