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Die Frau und ihr Geschlecht
Wo steht das denn? In „Unten rum – Die Scham ist nicht vorbei“ von Claudia Haarmann. Darin geht es um, genau, Frauen und ihr Geschlecht. Wenn man das so liest, tun sich zu allen Seiten die tiefsten Abgründe auf. Rechts lauern die platten Orgasmuszaubersprüche der Frauenzeitschriften, links die esoterischen Befindlichkeitsformeln der Ratgeberbände. Allein das Vokabular um die weiblichen Genitalien – Schamlippen, Klitoris, Vulva – ist ein Artikulations-Minenfeld für sich. Doch Haarmann ist es gelungen, jenseits von all den Fallen die unter dem Deckmantel der „Sexliteratur“ lauern, ein richtig gutes Buch über die Vagina, den Sex und die Seele zu schreiben.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die meisten Frauen haben zu ihrem primären Geschlechtsorgan ein eher schwammiges Verhältnis. Das fängt an beim verbalen Umgang mit der Thematik und hört da auf, wo es handfest wird. Für einen Jungen ist sein Penis eine ziemlich konkrete Angelegenheit. Das liegt schon an seiner anatomischen Beschaffenheit. Schließlich kann man einen Schwanz nicht einfach ignorieren. Dafür kann man ihn umso besser in die Hand nehmen und ihn gut behandeln, was die meisten Jungs ja auch nicht ungern tun. Egal was ein Junge von seinem guten Stück hält, ob er ihn zu klein, zu groß oder zu dünn findet – einen Bezug hat er auf jeden Fall zu ihm. Mädchen sind da anders. Genauso unauffällig wie ihr Geschlecht verstaut ist, begegnen sie ihm zumeist auch: mit Diskretion und Distanz. Für viele ist die Vagina der Körperteil ohne Eigenschaften. Eine Leistung Harmanns ist es, sie so zu charakterisieren, dass man beim Lesen unwillkürlich zustimmend mit dem Kopf wackeln muss: „Der zarte Ort, der Wohlgefühl, Freude, Lust und Aufgeschlossenheit genauso kennt wie Trauer, Schmerz und Zurückgezogenheit. Der dankbar sein kann und verzweifelt. Dieser weiblichste Teil in uns bleibt bis heute überwiegend namenlos.“ Damit nennt sie einen springenden Punkt, die Sprachlosigkeit. Ihre Brüste kennen und besprechen Mädchen mit wenig Hemmung, aber die Zone zwischen den Beinen ist für viele unerforschtes und vor allem namenloses Territorium. Haarmann nennt den Mangel an Bezug eine „handfeste Beziehungsstörung“: Keine Zärtlichkeit, keine ästhetische Wertschätzung und keine Kommunikation. Etwa 40 Prozent der Frauen sehen ihre Vagina als etwas Negatives. Dass Männer ihnen da entschieden widersprechen würden, hilft auch nicht weiter. Haarmann hat Interviews mit Frauen aus allen Alters- und Gesellschaftsgruppen geführt. Da ist die 70jährige Hausfrau, die sich mit 50 scheiden ließ und erst von einer anderen Frau lernen durfte, was ein Orgasmus ist. Oder die Anfang 20jährige, die ihren Freund darum beneidet, wie liebevoll er seinen Penis behandeln kann. Haarmann hat mit Frauen gesprochen, die als Kinder missbraucht wurden, mit Frauen, die Jahre lang überhaupt keinen Sex hatten, weil sie nichts dabei empfanden. Ihnen allen gemein ist der verbaute Zugang zu ihrem Geschlecht und damit eben auch zur eigenen Sexualität. Was „Unten rum“ von der eingängigen Körperlichkeitsliteratur abhebt, ist zweierlei. Zum einen sind es die unterschiedlichen Frauen, die sehr direkt aber dabei niemals irritierend von ihren unterschiedlichen Erfahrungen erzählen. Zum anderen ist es Haarmanns angenehmer Tonfall. Mit freundlich bestimmter Offenheit zeigt sie auf, was rund um die Vagina alles schief läuft. Und sie sagt, wie es besser sein kann, ohne dabei in die peinliche „Erspüre dich selbst“-Rhetorik zu kippen. Die sexuelle Befreiung sei zwar in den Köpfen, nicht aber in den Betten angekommen, meint Haarmann. Damit ergibt sich die paradoxe Situation, dass wir zwar alles tun könnten, was wir wollen, aber gar nicht so genau wissen, was das eigentlich ist. Zur wirklichen Freiheit gehört eben auch ein Stück Wissen. Um das zu bekommen, ist „Unten rum“ schon mal ein ziemlich guter Einstieg.