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"Die Dicken sind das Problem"
Angestrichen: „Fast 30 Prozent der jungen Leute sind zu fett. Also lasst uns lieber über die Unmengen von Fetten reden als über die paar Dürren.“ Wer sagt das denn? Karl Lagerfeld auf den Vorwurf, ausschließlich Size Zero-Models auf dem Catwalk laufen zu lassen und damit Magersucht zu propagieren. In einem kürzlich ausgestrahlten Interview des britischen Senders Radio 4 schlug er wieder einmal verbal um sich und erinnerte einen erneut daran, weswegen man ihn kennt: als Chanel-Chefdesigner natürlich, aber in erster Linie als lebende Bonmot-Maschine. Karl Lagerfeld ist quasi der Helmut Schmidt des Glamours. Er weiß altersbedingt alles besser, ist eine geachtete und gefürchtete Meinungsautorität auf seinem Gebiet (Schmidt: Deutschland und die Welt; Lagerfeld: Die Welt und ich). Und feiert er einen runden Geburtstag, stimmen Zeitungen auch zu seinen Ehren wochenlange Lobgesänge an. Nur sind seine Anmerkungen zur Lage der Nation vielleicht nicht ganz so konsensfähig wie die von Altkanzler Schmidt.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Zur Finanzkrise weiß er zu sagen, dass ihn Geld persönlich nicht interessiere; zu Sex, dass es nur eine Sportart sei. Er hat seine ganz eigene Sicht auf Autos („Ich fahre Hummer, weil ich nicht auf der selben Höhe wie die anderen fahren will“) und auf die Ellenbogengesellschaft („Wer Ellenbogen zeigt, kann auch Knie zeigen“). Und jetzt: Nicht die Dünnen, sondern die Dicken sind das Problem.
Er spricht damit etwas Wahres an. Die Debatte um Gewicht wird in den Medien von zwei extremen Bildern dominiert. Auf der einen Seite die fettsüchtige 200 Kilo-Frau, auf der anderen das magersüchtige Knochengestell. Extremes Übergewicht versus extremes Untergewicht. Beide Phänomene wurzeln in der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, dem Gefühl, nicht schön zu sein. Die einen flüchten sich in die Maßlosigkeit, die anderen in maßlose Mäßigung.
Lagerfeld kennt vermutlich beides. Legendär ist mittlerweile die Geschichte, nach der er Anfang des Jahrtausends sein Lebendgewicht halbierte, um in die überschmalen Anzüge von Hedi Slimane zu passen. Es ist die Geschichte einer wundersamen Entjüngungskur, für Normalsterbliche fast so schwer zu glauben wie die Tatsache, dass Madonna mit ihren 50 Jahren immer noch wie Madonna aussieht.
Ebenso, wie es unnormal ist, dass man sich mit 50 Jahren vier Stunden am Tag für die Figur einer 20-Jährigen abstrampelt, ist es unnormal, sich auf Konfektionsgröße 32 herunterzuhungern. Es stimmt, die meisten Models sind zu dünn und essen vermutlich zu wenig. Oft aber wird übersehen, dass die meisten Models von Natur aus überdurchschnittlich zierlich gebaut sind. Lagerfelds Schönheitsideal ist daher eines, das ohnehin unerreichbar ist. Es ist unerreichbar, weil Size Zero nur in der Parallelwelt Laufsteg existiert, nirgendwo sonst.
Lagerfeld wirft die Frage auf, welches der zwei extremen Bilder stärker wahrgenommen wird, ob also die Aufregung um Magermodels im Verhältnis zum eigentlichen Problem steht? Wenn er nun im wahrsten Sinne des Wortes Unter- gegen Übergewichtige aufwiegt, wenn er sagt, man solle sich erstmal um die Dicken kümmern, ehe man über das Dünnheitsideal plaudert, kann man ihm vielleicht menschenverachtenden Relativismus vorwerfen. Aber relativ gesehen hat er Recht.
Text: xifan-yang - Foto: ap