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Talking Minds: Betroffene mit Borderline erzählt
In unserer monatlichen Reihe „Talking Minds“ berichten Menschen von ihren Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen. Ihre Geschichten, Gedanken und Symptome können dabei individuell sehr unterschiedlich sein, deshalb findest du am Ende auch allgemeinere Informationen zum Thema.
Alex Jeanne ist 33 Jahre alt und hat die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie arbeitet als Schauspielerin und Moderatorin und studiert Psychologie. Durch die Diagnose und Jahre der Verhaltenstherapie, lernte sie damit umzugehen. Auf ihrem Blog, auf Instagram und in ihrem Podcast klärt sie über die Borderline-Persönlichkeitsstörung auf und berichtet über ihr Leben mit der Erkrankung.
Triggerwarnung: In diesem Text geht es unter anderem um verschiedene Symptome der psychischen Erkrankung Borderline wie Ängste oder selbstverletztendes Verhalten.
„Ich war kurz davor, mein Vertrauen in Therapien zu verlieren, als ich im Alter von 28 Jahren und nach neun Jahren erfolgloser Therapie die Diagnose Borderline–Persönlichkeitsstörung bekam. Das war ein Aha-Moment, der mein Leben für immer verändert hat: Endlich hatte ich eine Erklärung für meine Andersartigkeit, einen Anhaltspunkt, von dem aus ich mich besser verstehen konnte.
Ich kaufte mir Bücher über die Erkrankung und recherchierte im Internet. Dabei fiel mir auf, wie einseitig Betroffene dort teilweise dargestellt werden: ‚Der Borderliner‘ als bösartiges Monster, das absichtlich Beziehungen sabotiert. Es mag sein, dass sich manche Menschen mit Borderline schwer tun eine Beziehung zu führen und Verhaltensweisen an den Tag legen, die eher destruktiv sind. Aber das trifft nicht auf alle zu und es ist unfair dabei eine Absicht zu unterstellen.
Ich fühle alle Gefühle viel stärker als andere
Dieses Stigma und die damit verbundenen Annahmen machten es mir zunächst schwer, die Diagnose zu akzeptieren. Gerade bei jüngeren Betroffenen kann das Stigma auch dazu führen, dass sie sich erst gar keine Hilfe holen. Das ist unfassbar traurig, denn diese kann Leben verändern – das habe ich selbst erfahren. Deshalb gehe ich mit meiner Geschichte in die Öffentlichkeit.
Wie ich heute weiß, entstand meine Erkrankung über Jahre hinweg aus einem Zusammenspiel von Veranlagung und traumatischen Erfahrungen, auf die ich nicht genauer eingehen möchte. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine Störung der Emotionsregulationskontrolle: Ich fühle alle Gefühle viel stärker als andere und meine Emotionen können von einem auf den anderen Moment umschlagen. Weil ich als Kind nicht gelernt habe, wie ich meine starken Gefühle regulieren kann, litt ich lange unter unerträglicher innerer Anspannung.
Ich war schon als kleines Kind lauter, auffälliger und empfindsamer als andere Kinder. Schon damals hatte ich starke Angst vor dem Verlassenwerden und konnte nicht allein sein. In der Schule hatte ich Probleme, mich zu integrieren. Weil ich dachte, keiner könne mich verstehen, bin ich oft unvermittelt ausgerastet. Damals wusste ich nicht, dass ich viel stärker fühle als andere Menschen und die Welt deshalb anders wahrnehme als sie. Ich wusste nur, dass ich nicht so war, wie mein Umfeld mich gerne hätte. Meine Eltern und Lehrer sagten zu mir: ‚Du musst dich anpassen, sonst wird es schwierig für dich im Leben.‘
Ich fand durch Zufall raus, dass ich meine Emotionen kontrollieren kann, indem ich wenig esse
Mit 14 Jahren war ich das erste Mal verliebt und die Gefühle waren so unerträglich stark, dass sie mich überforderten. Ich suchte verzweifelt einen Weg mit ihnen umzugehen und fand durch Zufall raus, dass ich meine Emotionen kontrollieren kann, indem ich wenig esse. Ich wurde so dünn, dass ich auf der Straße angeschaut und von meinen Lehrern angesprochen wurde. Weil ich merkte, dass ich meine Eltern durch mein Verhalten belastete, fing ich aber von einem auf den anderen Tag wieder an zu essen. Mit 19 Jahren, als ich gerade aus meinem Elternhaus ausgezogen war, bekam ich so schlimme Ängste und Panikattacken, dass ich meine Wohnung nicht mehr verlassen konnte. Danach begab ich mich das erste Mal in Psychotherapie.
Lange Zeit wurde jedoch nur die Angst, ein Symptom meiner eigentlichen Erkrankung, behandelt. Ich wechselte meine Therapeuten häufig, weil ich mich unverstanden fühlte und Diagnosen bekam, die sich nicht stimmig anfühlten. Ich hätte meine Suche nach Hilfe fast aufgegeben, als ich nach neun Jahren der Therapie die richtige Diagnose bekam, die das Rätsel meiner Andersartigkeit endlich erklärte.
Das Gefühl der inneren Anspannung, unter dem Menschen mit Borderline leiden, ist für Außenstehende schwer nachzuvollziehen. Es fühlt sich an, als hätte man super viele starke Emotionen, die einen zerreißen. In diesen Momenten will man nichts mehr und macht alles, damit die innere Anspannung weggeht. Aus diesem Grund verletzen sich viele Betroffene selbst.
Viele fangen an, sich Schmerzen zuzufügen, um sich von ihrer starken inneren Anspannung abzulenken
Man kann sich die Wirkung der Selbstverletzung wie ein Ventil vorstellen: In einem tobt ein gewaltiger Sturm an Emotionen. Starke Wut, Angst und Traurigkeit zum Beispiel. Dadurch, dass sich diese Emotionen vermischen, fühlen Betroffene irgendwann nur noch eine starke innere Anspannung und Zerrissenheit. Sie möchten irgendetwas machen, damit dieser schreckliche Zustand aufhört. Viele fangen deshalb an, sich durch Schneiden, Haare ausreißen oder indem sie ihren Kopf gegen eine Wand schlagen, Schmerz zuzufügen. Denn dieser hat die Kraft einen aus den Emotionen herauszureißen, indem er die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Das kann ein schlimmer Teufelskreis werden: Denn die Selbstverletzung löst das Problem langfristig nicht, sondern führt dazu, dass man sich danach noch elendiger fühlt.
Auch ich verletzte mich früher selbst. Ich fügte mir erst Schaden zu, indem ich extrem wenig aß. Später kiffte ich viel, weil ich high das innere Chaos nicht mehr fühlen musste. Erst habe ich das ab und zu gemacht, irgendwann bin ich sogar bekifft zur Arbeit gegangen. Als mir bewusst wurde, dass ich ohne die Droge kaum mehr zurechtkam, hörte ich damit zum Glück rechtzeitig wieder auf. Eine Zeit lang schnitt ich mich in meinem Oberschenkel. Doch auch das brachte viele Probleme mit sich: Während alle nach außen hin nur die lachende Alex sahen, wusste mein Exfreund als einziger von meinen Selbstverletzungen. Das war eine schwere Last für ihn. Und bei mir führte jede weitere Narbe dazu, dass mein Selbstwert geringer wurde. Ich hasste mich selbst und war wütend, weil die Narben aus meiner Sicht ein weiterer Beweis dafür waren, dass ich komisch, anders, schlecht bin.
Ich hatte nie die Absicht, mich umzubringen. Aber ich hatte immer die Angst, dass ich mich ausversehen umbringen könnte. Denn wenn ich so starke Emotionen fühlte, verhielt ich mich oft hochriskant und impulsiv. Ich bin dann zum Beispiel sehr schnell mit dem Fahrrad gefahren, mit Musik in den Ohren, über rote Ampeln. Das waren Taten der Hilflosigkeit, verzweifelte Versuche, das innere Chaos loszuwerden.
Ich konnte mich schwer an vorgegebene Strukturen anpassen, an feste Arbeitszeiten zum Beispiel
Die Impulsivität und die Wutanfälle haben es mir auch in zwischenmenschlichen Beziehungen und in der Arbeit schwer gemacht. In Partnerschaften hatte ich die meisten Probleme. Meine starken Gefühle führten zu Schwarz-Weiß-Denken: In einem Moment fühlte ich starke Wut auf meinen Freund und wollte die Beziehung am liebsten direkt beenden. Eine halbe Stunde später kam eine andere Emotion und dementsprechend veränderten sich auch meine Wahrnehmung und Gedanken. Dann konnte es passieren, dass ich plötzlich eine unfassbare Dankbarkeit empfand, diesen Menschen an meiner Seite zu haben.
Auch in der Arbeit hatte ich Probleme: Ich konnte mich schwer an vorgegebene Strukturen anpassen, an feste Arbeitszeiten zum Beispiel. An manchen Tagen waren die Emotionen zu groß, um sie bewältigen und regulieren zu können. Ich habe deshalb ständig Arbeiten, Studiengänge und Nebenjobs nach kurzer Zeit abgebrochen.
Heute habe ich diese Probleme nicht mehr. Das bedeutet aber nicht, ich sei geheilt. Die innere Achterbahnfahrt der Gefühle habe ich immer noch. Was sich verändert hat, ist mein Umgang mit ihnen. Denn ich lernte in der Therapie, wie ich mit der inneren Anspannung konstruktiv umgehen kann. Heute kann ich meine Emotionen beobachten und erkennen. Wenn ich merke, dass ein Gefühl zu stark wird, kann ich entgegengesetzt handeln und denken. Für mich war es wichtig zu lernen, dass ich mehr bin als meine Gedanken und Gefühle, dass ich sie kommen und gehen lassen kann, ohne mich mit ihnen zu identifizieren. Außerdem konnte ich mir durch die Therapie einen anderen Umgang mit Triggern aneignen, zum Beispiel mit Situationen, die meine Angst vor dem Verlassenwerden auslösen und meine Glaubenssätze aus der Kindheit hinterfragen.
Ich erlebe auch Freude, Lebenslust und Begeisterungsfähigkeit besonders stark
Heute weiß ich, dass meine Erkrankung auch gute Seiten hat: Ich empfinde nicht nur negative Emotionen stärker, sondern erlebe auch Freude, Lebenslust und Begeisterungsfähigkeit noch ähnlich stark wie Kinder es tun. Ich kann mich unfassbar über Dinge wie leckeres Essen oder einen schönen Schmetterling freuen, die andere Menschen oft kaum wertschätzen. Für mich war es wichtig, diese positiven Seiten an mir zu erkennen. Heute weiß ich: Ich bin nicht schlecht oder falsch, nur anders.
Da ich jetzt bessere Wege kenne, um mit der inneren Anspannung umzugehen, habe ich nicht mehr das Bedürfnis, mich zu verletzen. Außerdem habe ich weniger Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen. Ich kenne mich besser und handle nicht mehr so impulsiv, was zu weniger Streit und Wutanfällen führt. Meinen Mitmenschen erkläre ich, dass ich durch meine intensiven Gefühle die Welt oft anders wahrnehme. Deshalb wissen mein Freund und meine Familie, wie sie mir helfen können, wenn meine Emotionen mich übermannen: Wenn das passiert, erinnern sie mich an die Skills, die ich in der Therapie gelernt habe: Zum Beispiel ruhig zu atmen, zu meditieren, Sport zu treiben oder in ein Kissen zu boxen. Oder sie nehmen mich einfach mal in den Arm, während sie früher vielleicht in einen Gegenangriff gegangen wären.
Meine Therapie, eine Dialektisch-Behaviorale Verhaltenstherapie, hat mein Leben verändert. Deshalb würde ich mir wünschen, dass wir als Gesellschaft offener über psychische Erkrankungen sprechen, damit Betroffene und deren Angehörige wissen, dass es Hilfe gibt. Ich würde mir von der Gesellschaft wünschen, dass wir das Thema psychische Erkrankungen entstigmatisieren und enttabuisieren. Wir sollten dahin kommen, zu verstehen, dass es keine Schande ist, eine psychische Erkrankung zu haben. Betroffene haben nichts falsch gemacht. Viele Erkrankungen entwickeln sich in Kindesjahren. Man kann nicht sagen, dass Kinder etwas falsch gemacht haben. Sie hatten einfach das Pech unter Umständen aufzuwachsen, die nicht gut für sie waren.“
Hintergrundinformationen zum Thema Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS):
Laut dem diagnostischen und statistischen Manual für psychische Störungen in fünfter Auflage (kurz DSM-5) ist die BPS durch ein anhaltendes Muster von Instabilität und Überempfindlichkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen, ein instabiles Selbstbild, Stimmungsschwankungen und Impulsivität gekennzeichnet.
Viele Betroffene haben starke Angst vor dem Verlassen werden, was zu plötzlichen Wechseln ihres Selbstbilds, ihrer Gefühle, Gedanken und Verhalten führen kann. Außerdem leiden sie unter Stimmungsschwankungen: Sie empfinden plötzliche schwer kontrollierbare intensive Ängste, Panik, Wut oder Verzweiflung. Ein anhaltendes Gefühl der inneren Leere oder Langeweile ist unter Betroffenen häufig. Unter starkem Stress können sie paranoide oder dissoziative Symptome entwickeln.
Oft führen Menschen mit BPS instabile und intensive Beziehungen. Dabei kann es vorkommen, dass sie ihr Gegenüber in einem Moment extrem idealisieren und im nächsten Moment ablehnen oder abwerten. Betroffene haben häufig ein instabiles Selbstbild oder Gefühl für das Selbst, was beispielsweise zu plötzlichen Änderungen ihrer Wertvorstellungen, Freunde oder Karrierewünsche führen kann. Ihr impulsives Verhalten zeigt sich beispielsweise im Umgang mit Geld, Rauschmitteln, Binge Eating oder in ihrem Sexualverhalten. Selbstverletzungen, wie Schneiden oder Verbrennungen sind unter Betroffenen sehr häufig; acht bis zehn Prozent begehen Suizid.
Viele Menschen mit BPS haben in ihrer Kindheit körperlichen oder sexuellen Missbrauch, Vernachlässigung oder frühen Verlust eines Elternteils erlebt. Studien legen nahe, dass auch genetische Komponenten die Entstehung der Störung beeinflussen.
Häufig haben Menschen mit BPS weitere psychische Erkrankungen wie Depression, bipolare Störung, Substanzabhängigkeit, Essstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, ADHS oder weitere Persönlichkeitsstörungen.
Es wird geschätzt, dass 1,6 Prozent der Bevölkerung betroffen sind; Männer und Frauen gleich häufig. Die Störung beginnt in der Regel in der frühen Jugend, die Symptome schwächen jedoch oft ab dem 30. Lebensjahr ab. Wenn die Störung frühzeitig erkannt und behandelt wird, ist die Prognose für Betroffene günstig.
Möchtest auch du von deiner psychischen Krankheit oder darüber, wie du die Symptome überwunden hast, erzählen? Dann melde dich gerne via info@jetzt.de. Mit deinen Informationen gehen wir selbstverständlich vertraulich um.