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Talkings Minds: Jenni erkrankte schwer an Magersucht und musste künstlich ernährt werden
In dieser Folge von „Talking Minds“ erzählt Jenni, 26. Sie arbeitet als Grafikerin und Schauspielerin. Als Teenagerin erkrankte sie schwer an Magersucht und musste zwei Monate lang mit einer Magensonde ernährt werden.
Triggerwarnung: Die Inhalte dieses Textes könnten auf Leser*innen traumatisierend oder retraumatisierend wirken.
„Alles begann im Sommer, als ich 13 Jahre alt wurde. „Germanys Next Topmodel“ lief im Fernsehen und auch in Magazinen sah ich all die top-gebauten Frauen, mit perfekter Oberweite und Sanduhrenfigur. Ich stellte mich vor den Spiegel, blickte an mir runter und sah eigentlich nur Bauch. Ich dachte mir: „Wenn ich jetzt nur ein paar Kilo verliere, dann wird der Bauch dünner und ich sehe aus wie diese Frauen.“ Ich war mitten in der Pubertät, viele um mich herum versuchten abzunehmen, ich wollte das auch – und das ging nach hinten los. Monate später lag ich in einer Klinik und musste zwangsernährt werden, um zu überleben.
Vorher war ich ein gesunder, schlanker Teenager gewesen. In meiner Familie war abnehmen eigentlich nie ein Thema und ich hatte immer gut gegessen, meinen Eltern eigentlich nie Probleme bereitet. Dann kam die Pubertät und mit ihr der Wunsch, auszusehen wie die Magermodels im Fernsehen. Als die Krankheit in den Vordergrund rückte, wurde ich schwieriger, dünnhäutiger und jähzorniger. Ich igelte mich zunehmend zuhause ein und beschäftigte mich nur noch mit dem Thema Abnehmen. Ich fing damit an, das Frühstück auszulassen. Meine Portionen wurden außerdem immer kleiner: Erst halbierte ich sie, dann viertelte ich sie und irgendwann ließ ich sie ganz weg. Am Ende aß ich an manchen Tagen gar nichts oder nur zwei kleine Reiswaffeln.
Meine Gedanken kreisten permanent um Essen: Ich verwendete den ganzen Tag darauf, meine Mahlzeiten zu planen und Kalorien zu zählen. Essen hatte in meinen Augen keine Funktion mehr, sondern war nur noch eine Belastung. Mein Verhalten während der Diät habe ich als sehr kalt und berechnend in Erinnerung: Ich kämpfte gegen meinen Körper und schaute, wie weit ich gehen konnte. Es war eine Challenge gegen mich selbst. Kontrolle und Selbstdisziplin spielten hier eine große Rolle. Wenn ich es am Abend geschafft hatte, nur einen Apfel zu essen, dann war ich richtig stolz. Denn mein Verhalten wurde mit dem erwünschten Ergebnis belohnt: Ich wurde immer weniger. Irgendwann war mein Magen so klein, dass ich kaum noch Hunger spürte.
„Wenn man magersüchtig ist, nimmt man seinen Körper nicht mehr richtig wahr“
Ich verglich mich ständig mit anderen Menschen. Sah ich die Nachbarin, dachte ich mir, dass ich auch gerne so dünn wie sie wäre. In Wahrheit wog ich vermutlich fünfzehn Kilo weniger als sie, aber das sah ich nicht. Wenn man magersüchtig ist, nimmt man seinen Körper nicht mehr richtig wahr. Ich hatte fast schon Halluzinationen: Ich stand vor dem Spiegel und hatte das Gefühl, mein Körper blähe sich auf. Ich habe einen dicken Bauch gesehen, wo keiner war.
Weil ich mich dick fand, verstand ich nicht, was die Lehrer und Mitschüler wollten, die mich nach den Sommerferien auf mein niedriges Gewicht ansprachen. Meist waren das eher abfällige Bemerkungen von Mitschülern, denen ich nicht nahestand, und ich dachte, sie seien bloß neidisch. Meine Freunde jedenfalls sagten kaum etwas dazu. Irgendwann riefen Lehrer meine Eltern an. Die wiederum hatten mein Problem inzwischen zwar auch schon längst bemerkt, waren aber angesichts der Erkrankung hilflos. Meine Eltern probierten alles Menschenmögliche, redeten mir immer gut zu. Aber ihre Worte erreichten mich nicht und ich zog mich nur immer weiter zurück.
Die Magersucht wurde zu meiner Vertrauten. Sie war die einzige, auf die ich hörte. Sie sagte quasi zu mir: „Du brauchst die anderen nicht. Du hast mich, du machst alles richtig. Und wenn du noch ein kleines bisschen mehr abnimmst, dann ist es gut so.“ Aber es ist halt nie genug – es ist eine Sucht.
Weil ich kaum mehr Nährstoffe zu mir nahm, war alles anstrengend. Ich schlief tagsüber immer wieder ein, hatte Druck auf den Ohren und war körperlich insgesamt schwach. Das fiel mir alles auf, aber ich brachte es nicht mit meinem Essverhalten in Verbindung. Dass ich krank war und dringend etwas dagegen tun müsste, das war mir lange nicht klar.
Ungefähr fünf Monate nachdem ich angefangen hatte, abzunehmen, ging meine Mutter mit mir zum Hausarzt, der mich wog. Ich war geschockt, als ich sah, dass ich bei einer Größe von knapp einem Meter sechzig nur noch 28 Kilo wog. Ich hatte ungefähr 15 Kilo abgenommen. Kurze Zeit später hatten wir ein Gespräch beim Oberarzt einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er sagte zu uns, dass ich sofort dableiben müsse. Ich war wahnsinnig entsetzt, als meine Mutter dem zustimmte, ohne mich nach Hause fuhr, und mit einem großen Koffer, voll mit meinen Klamotten, wiederkam.
„Zwei Monate lang wurde ich künstlich ernährt“
Später wurde mir erzählt, dass die Pfleger der Psychiatrie in der ersten Nacht die Wiederbelebungsmaschine in den Nebenraum gestellt hatten, weil sie so Angst hatten, dass ich nicht überlebe. Ich selbst war zwar sehr schwach, dachte aber gar nicht an diese Gefahr.
In der Klinik gab es über den Tag verteilt sechs kleine Mahlzeiten. Am ersten Tag aß ich ein wenig zu Abend. Aber mein Magen war so klein, dass ich sechs Mahlzeiten gar nicht geschafft hätte. Am zweiten Tag bekam ich deshalb eine Magensonde. Das war wahnsinnig schmerzhaft. Erst ab da wurde mir langsam bewusst, dass ich eine schlimme Krankheit hatte.
Zwei Monate lang wurde ich künstlich ernährt. Denn die Ärzte waren der Meinung, dass mein Zustand sehr kritisch war und ich durch Essen nicht schnell genug ausreichend Nährstoffe aufnehmen konnte. Die Nahrung, die Pflegerinnen und ich nannten sie Astronautennahrung, wurde mit einer Plastikspritze in eine Vorrichtung unter meiner Nase gespritzt und ist dann durch einen Schlauch in meinen Magen gelaufen. Fremdbestimmt ernährt zu werden, war ungewohnt und ich weinte viel. Die ersten zwei Wochen in der Klinik hatte ich Bettruhe und dann zwei Wochen Zimmerruhe. Danach nahm ich mehrmals die Woche an Psychotherapie, Bewegungs-, Musik-, Gestaltungs- und Gruppentherapie teil. Ein Großteil der restlichen Zeit schlief ich, weil ich ein Medikament nahm, das mich müde machte.
Meine Familie gab mir in dieser schweren Zeit unheimlich viel Rückhalt. Meine Mutter fuhr jeden Tag drei Stunden, um mich zu besuchen. Sie ließ mich nie sehen, wie schwer das für sie war und wie viel Angst sie um mich hatte. Aber meine beste Freundin, die einmal die Woche mitkam, erzählte mir, dass meine Mutter im Auto manchmal weinte.
Nach vier Monaten wurde ich aus der Klinik entlassen. Aber zurück in der Schule fand ich keinen Anschluss. Mit einer, die so lange in der Psychiatrie war, wollte keiner etwas zu tun haben. Die Lehrer führten mich unwissentlich vor, weil sie sich freuten, dass ich wieder da war. Aber eigentlich wollte ich gar keine Aufmerksamkeit. Mir ging es noch immer schlecht und ich hatte das Gefühl, dass niemand mich verstand.
„Ich glaube aber nicht, dass ich nochmal magersüchtig werde. Dafür weiß ich heute zu viel“
Weil ich keine Freunde fand, ging es mir nicht lange gut. In dieser Zeit wurde mein Essverhalten wieder schlechter. Nach einigen Monaten beschlossen meine Eltern, meine Therapeutin und ich, dass ich nochmal eine stationäre Therapie machen sollte. Ich blieb für zwei Monate.
Ich kann schwer sagen, was am Ende ausschlaggebend dafür war, dass ich gesund wurde. Viele Leute, die eine Therapie beginnen, meinen nach einer Sitzung, das bringe sowieso nichts. Aber in Wahrheit bekommt man nur nicht mit, was genau hilft. Ich führte Gespräche mit den Therapeuten, tauschte mich mit anderen Betroffenen aus, redete über meine Sorgen und bemerkte die schrittweise Veränderung nicht. Aber irgendwann schaute ich zurück und sah, wie viel besser es mir nun ging.
Ich dachte danach jahrelang gar nicht mehr über die Magersucht nach. Vor vier Jahren, als ich mit dem Rauchen aufhörte, nahm ich zwei Kilo zu. Ich war wieder unzufrieden mit mir, versuchte abzunehmen und das ganze Thema rückte wieder in den Vordergrund. Als mir klar wurde, wie sehr mir die paar Kilo zu schaffen machten, suchte ich mir einen Therapeuten. Dieser half mir nicht viel. Aber zum Glück kam ich von selbst wieder auf die richtige Spur. Auch heute noch habe ich ein anderes Verhältnis zum Essen als andere Menschen. Es ist mir zum Beispiel wichtig, schon am Morgen mein Abendessen zu planen. Ich glaube aber nicht, dass ich nochmal magersüchtig werde. Dafür weiß ich heute zu viel.
Ich rate Betroffenen, keinen Kanälen auf Social Media zu folgen, in denen Essgestörte über ihre Krankheit berichten. Wenn Kranke so etwas dokumentieren, dann ist das immer verfälscht. Besser ist es, sich professionelle Hilfe zu holen, Experten, die das Ganze aus der Distanz betrachten können. Viele Menschen sind in Therapie, das ist nicht peinlich – und es hilft. Auch wenn es dauern kann, bis es einem besser geht.
Ich habe die Magersucht überwunden und zum Glück keine schweren Folgeschäden. Aber ich glaube, dass ich durch die Erkrankung mit dreizehn Jahren aufgehört habe, zu wachsen. Meine Eltern sind etwas größer, deshalb nehme ich an, dass ich ohne die Erkrankung noch etwas gewachsen wäre. Immerhin sind meine Größe und zierliche Statur praktisch für meinen Beruf, weil ich oft die kleinen Mädchen spiele. In meinem Job wissen zwei Kollegen, dass ich magersüchtig war. Das ist kein Geheimnis und ich schäme mich nicht dafür. Die Krankheit gehört zu meinem Erwachsenwerden dazu. Jeder Mensch muss auf diesem Weg kleinere und größere Hürden überwinden.
Hintergrundwissen zum Thema Magersucht:
Die Magersucht (in der Fachsprache „Anorexia Nervosa“ genannt) gehört zu den bekanntesten Essstörungen. Betroffen sind vor allem Frauen, aber zunehmend auch Männer. Die Erkrankung beginnt meist während der Pubertät oder im frühen Erwachsenenalter.
Die psychische Erkrankung ist durch einen absichtlich herbeigeführten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust gekennzeichnet. Laut dem Manual für psychische Erkrankungen (DSM-5), regulieren Betroffene ihre Nahrungsaufnahme stark und oder betreiben exzessiv Sport; 30 bis 50 Prozent haben wiederkehrende Essanfälle und/oder erbrechen oder missbrauchen Abführmittel.
Magersüchtige haben starke Angst vor einer Gewichtszunahme und leiden unter einer Körperschemastörung: Sie nehmen ihren Körper als dick oder unförmig wahr, obwohl sie sehr dünn beziehungsweise untergewichtig sind. Ihre Gedanken kreisen nahezu ununterbrochen und zwanghaft um die Themen Essen und Gewicht. Ihren Selbstwert knüpfen Erkrankte stark daran, ob es ihnen gelingt, ihr Gewicht und ihre Nahrungsaufnahme zu kontrollieren. Eine Krankheitseinsicht ist meist nicht oder nur sehr gering vorhanden.
In Folge der Magersucht können zahlreiche weitere psychische und mitunter schwere bis lebensbedrohliche körperliche Mangelzustände und Erkrankungen auftreten. Fünf bis sechs Prozent der Erkrankten sterben in Folge der Magersucht. Doch durch verbesserte Behandlungsmöglichkeiten ist die Sterblichkeit vor allem bei Jugendlichen zurückgegangen.
Wenn Betroffene frühzeitig behandelt werden, haben sie außerdem eine höhere Chance, keine langfristigen oder schweren körperlichen und psychischen Folgeschäden davonzutragen.
Anmerkung der Redaktion: Wenn du von einer Essstörung betroffen bist, kannst du dich an deine Hausärzt*in, eine Psycholog*in/ Psychotherapeut*In oder an eine Beratungsstelle wenden. Auf der Webseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung findest du weitere Informationen zu dem Thema sowie eine Liste mit Beratungsstellen. In diesem Leitfaden der Universität Würzburg finden Eltern, Angehörige und Lehrkräfte umfangreiche Informationen zum Thema Essstörungen.