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Zwei Nächte in der Hölle

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Die Häftlingskapelle spielt Richard Wagner, ausgerechnet, als Denis Avey inmitten des Gefangenentrosses ins Konzentrationslager Buna/Monowitz marschiert. Am Lagereingang hängt ein toter Häftling an einem Galgen. Zur Abschreckung. Denis Avey läuft weiter und versucht, nicht aufzufallen: Er geht den gebeugten Gang der KZ-Häftlinge, er schaut zu Boden, er täuscht Hustenanfälle vor - für den Fall, dass ihn ein SS-Mann anspricht und er seinen englischen Akzent verbergen muss. Avey, der als Kriegsgefangener in einem nahen Lager interniert ist, hat mit einem KZ-Häftling Uniformen getauscht, um sich ins KZ einzuschleichen. Wenn die Deutschen das bemerken würden, es wäre wohl sein Ende.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Auf einer Freifläche im KZ müssen die Gefangenen sich aufstellen, SS-Männer zählen sie ab. Der Abendappell dauert fast zwei Stunden. Danach geht Avey mit den Häftlingen in eine der Baracken, vorbei am Frauenhaus, dem Lagerbordell, in dem vor allem polnische Zwangsprostituierte den nichtjüdischen Häftlingen zu Willen sein müssen. In der Baracke, in der Avey diese Nacht schlafen wird, stehen dreistöckige Etagenbetten, in denen die Gefangenen meist zu dritt auf einer Pritsche liegen, versetzt, Kopf an Fuß an Kopf. Einige benutzen die metallenen Suppenschüsseln als Kissen, damit niemand sie klaut.

Denis Avey liegt in der Mitte einer Pritsche, zwischen zwei Gefangenen, und fragt, was sie wissen über die Gerüchte von Gaskammern und Krematorien, außerdem nach den Namen von SS-Leuten und Kapos - also der Häftlinge, die als Aufseher arbeiten. Als die beiden erschöpft einschlafen, bleibt Avey wach. Er versucht sich alles um ihn herum einzuprägen und er horcht auf die Geräusche der Nacht: die Verrückten, die vor sich hin reden, die Kranken, die vor Schmerzen stöhnen, und die Schlafenden, in ihren Albträumen schreiend. So erzählt Denis Aveys seine Geschichte. Natürlich wirkt fast 70 Jahre später die Vorstellung unglaublich, dass sich jemand während der NS-Zeit in ein Konzentrationslager einschleicht, sich also aus freien Stücken an einen dieser Orte des absoluten Terrors begibt. Zumal das KZ Buna/Monowitz zum Lagerkomplex von Auschwitz gehörte, dem Inbegriff des millionenfachen nationalsozialistischen Massenmordes.

Heute sieht Denis Avey, mittlerweile 92, das ganz ähnlich: »Es war lächerlich, absolut lächerlich«, sagt er in einem Interview der BBC, »niemand würde glauben, dass jemand auf so einen Gedanken käme.« Tatsächlich gibt es Zweifler, die Aveys Rollentausch für höchst unwahrscheinlich halten, zumal Avey keinerlei Beweise hat. Die meisten, die sich mit seiner Geschichte befasst haben, glauben ihm jedoch, weil das, was er sagt, in sich schlüssig ist und mit dem, was man über die Konzentrationslager heute weiß, weitgehend übereinstimmt.

Obendrein hat Avey seine Geschichte nicht exklusiv einem Revolverblatt verkauft - was ihn eher in den Verdacht bringen würde, daraus Aufmerksamkeit, Ruhm und Geld ziehen zu wollen -, sondern einem BBC-Reporter erzählt, und das nur nebenbei. Eigentlich ging es um Entschädigungszahlungen für Aveys Zwangsarbeit im Kriegsgefangenenlager.

Seit die BBC aber im November 2009 über Avey berichtete, ist »der Mann, der in Auschwitz einbrach«, in England eine Berühmtheit. Er gab Interviews für Zeitungen und Fernsehsender, Gordon Brown, damals noch britischer Premierminister, überreichte ihm eine Medaille für britische Helden des Holocaust, und derzeit arbeitet Avey in seinem Haus im nordenglischen Dorf Bradwell an seiner Autobiografie, die in zehn Ländern erscheinen wird - im Mai auch in Deutschland. Deshalb darf er gerade keine Interviews geben, erklärt seine Frau Audrey am Telefon.

Avey war mit den Schrecken von Auschwitz konfrontiert, weil er als britischer Soldat in Nordafrika von den Deutschen gefangen genommen und ins Kriegsgefangenenlager E715 gebracht worden war, das sich auf dem Lagerkomplex Auschwitz befand. Er sah jeden Tag die Viehwaggons, in denen die jüdischen Gefangenen ins KZ Auschwitz-Birkenau gebracht wurden, er roch den Rauch der Krematorien und das verbrannte Fleisch; er sah, wie die SS-Leute KZ-Insassen misshandelten und neu angekommene jüdische Zwangsarbeiter aus Ungarn innerhalb weniger Monate bis auf die Knochen abmagerten.

Der Lagerkomplex Auschwitz bestand aus dem Stammlager Auschwitz I, in dem mindestens 70 000 Menschen ermordet wurden, Auschwitz II, dem KZ Auschwitz-Birkenau, in dem mindestens eine Million Menschen starben, und Auschwitz III, dem KZ Buna/Monowitz, in das sich Denis Avey einschlich. Dort gab es keine Gaskammern, keine Krematorien und keine Massenerschießungen. Es war ein Arbeitslager, in dem die Insassen durch Mangelernährung, schlechte Hygiene und Schwerstarbeit zu Tode gequält wurden. Mehr als 25 000 meist jüdische Gefangene starben an den Folgen.

Die Schriftsteller Primo Levi und Elie Wiesel, später Friedensnobelpreisträger, gehören zu denen, die es überlebten. Das KZ Buna/Monowitz wurde gegründet, weil der Chemiekonzern I.G. Farben dort eine riesige Fabrik bauen wollte, in der unter anderem der synthetische Kautschuk Buna hergestellt werden sollte. Das konzerneigene KZ gilt heute als Paradebeispiel dafür, wie tief die deutsche Industrie in den Holocaust verwickelt war: Gefangene, die zu entkräftet waren, um ihre Arbeit fortzusetzen, wurden selektiert und im sieben Kilometer entfernten KZ Auschwitz-Birkenau ins Gas geschickt.

Das Kriegsgefangenenlager E715, in dem Denis Avey von Herbst 1943 bis Januar 1945 interniert war, befand sich neben der Buna-Baustelle und unweit des KZ Buna/Monowitz. Die Wehrmacht hatte das Lager eingerichtet, weil die dort internierten britischen Kriegsgefangenen auf der Baustelle Seite an Seite mit polnischen Zivilisten und KZ-Häftlingen arbeiten sollten. Die Zahl der Gefangenen in E715 schwankte in der Zeit seines Bestehens zwischen 600 und 1400. Mitte 1944 wechselte E715 den Standort und rückte dadurch so nah an das KZ Buna/Monowitz, dass die Kriegsgefangenen von da an gar nicht anders konnten als mitzuerleben, was nebenan passierte: Sie sahen durch den Zaun, wie KZ-Häftlinge misshandelt wurden, und wurden nachts von Schüssen und Schreien geweckt.

Verglichen damit war ihr eigenes Dasein erträglich, wegen der Hilfspakete des Roten Kreuzes, die ihnen als Kriegsgefangenen zustanden, waren sie nicht auf das miserable Lageressen angewiesen, sie durften sich Zigaretten schicken lassen, die sie auf dem Schwarzmarkt gegen Eier, Brot oder Kleidung eintauschen konnten, und wenn sie nicht auf der Buna-Baustelle arbeiten mussten, spielten sie Fußball und Theater, lasen Bücher aus der Lagerbibliothek oder hörten über illegale Radios Nachrichten vom Krieg. In der nationalsozialistischen Rassenideologie galten Briten als Arier, auch deshalb behandelte die SS sie auf der Buna-Baustelle respektvoller als die KZ-Häftlinge.

Wer sich aber mit Wachen anlegte, setzte sein Leben aufs Spiel: Man weiß, dass Insassen erschossen werden konnten, wenn sie einen Befehl missachteten. Auch Avey geriet mit einem SS-Mann aneinander, als der einem jungen jüdischen Gefangenen ins Gesicht schlug. »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, aber ich habe ihn beleidigt und als Untermenschen bezeichnet«, erzählt Avey in einer Rede, die er im Januar 2010 vor dem Holocaust Centre hielt, einer Gedenkstätte in der Grafschaft Nottinghamshire. Der SS-Mann schlug Avey mit seiner Pistole ins Gesicht und verletzte dabei Aveys rechtes Auge so schwer, dass es nach dem Krieg entfernt werden musste.

Obwohl es den Kriegsgefangenen und den KZ-Häftlingen untersagt war, während der Arbeit miteinander zu reden, konnte die SS eine Kontaktaufnahme nicht wirklich verhindern. Viele Briten sprachen den KZ-Insassen Mut zu, schenkten ihnen Zigaretten oder Essen oder überließen die ohnehin fast ungenießbare Suppe, die sie mittags auf der Baustelle erhielten, den »Stripeys«, wie die Briten die KZ-Häftlinge wegen ihrer gestreiften Uniformen nannten.

Auch Avey hielt sich nicht an das Kontaktverbot und sprach mit den KZ-Häftlingen über die Schläge der SS-Leute, über die Zwangsarbeit und sogar über die Gaskammern. Avey war überrascht, wie distanziert sie über den Tod im Lager redeten und über das Ungeheure, das Unvorstellbare, das nur ein paar Kilometer weiter in Auschwitz-Birkenau passierte. In seiner Rede vor dem Holocaust Centre erzählt Avey: »Manchmal habe ich gefragt: ›Wo ist denn Max oder Franz?‹ Und sie sagten: ›Oh, der ist letzte Nacht durch den Schornstein gegangen.‹«

Den zweiten Teil dieser Geschichte findest du hier.

Autor: Serge Debrebant

Text: charlotte-haunhorst - Bild: BPK, Archiv Auschwitz-Birkenau Museum

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