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Wir müssen reden

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Hallihallo, ich bin’s. Ich bin das Dauerlabern, das Sie vollschwallt, wo immer Sie gerade sind. Ich bin das Gewitzel zwischen Alfons Schuhbeck, Lea Linster und Johannes Lafer. Ich bin der Mann im Autobus, der seiner Frau telefoniert, dass er im Autobus sitzt. Ich bin Guido Westerwelle, wenn er »Wachstumsbeschleunigungsgesetz« sagt, und ich bin der Schulfreund Ihres Kindes, wenn er »du Opfer« sagt. Ich bin Ihr Vormittagsmeeting, Ihr Foto- kopierertratsch, der Schwachfug, der aus Ihrem Autoradio quillt. Ich bin das Hutschibutschi, das die Frau in der Gemüseabteilung in den Buggy flötet, und die Wortsturzflut, wenn Sie nach Hause kommen. Ich höre nie auf, ich fange immer wieder von vorn an, gleich morgen früh geht es weiter, keine Chance. Ich weiß, was Sie von mir halten: nichts. Dass ich zu viel bin, denken Sie, viel zu viel. Dass ich mehr werde, immer mehr. Dass Sie mich nicht leiden können, schon lange nicht. Und dass ich endlich das Maul halten soll, wenigstens ein paar Stunden. Damit in Ihrem Leben endlich wieder einmal eine Stille ist. Aber ich kann nicht. Ich muss immer weitermachen, und Sie müssen es ertragen. Sie haben es schon als Kind ertragen müssen. 2 100 direkt zu ihm gesprochene Wörter pro Stunde bekommt ein Kleinkind in einem gebildeten Haushalt zu hören, in Familien mit schlechtem Bildungshintergrund sind es immer noch 600. Bis zu seinem vierten Geburtstag hat ein Durchschnittskind von seinen Eltern mindestens 30 Millionen Wörter gehört. Das entspricht dem Umfang von 300 bis 500 Büchern à 300 Seiten. So also haben Sie die Sprache erlernt – indem Sie schon in der Wiege gnadenlos zugetextet wurden. Inhaltlich war das meiste davon durchaus entbehrlich: Lass das! Das ist ein Auto, Vogel, Baum; du musst aber Socken anziehen; der große Bär traf nie auf einen Baum, den er nicht liebhatte, und so weiter und so fort. Mutterglucksen, Vaterbrummen eben, damit Sie sich in Ihrer Kinderverlassenheit nicht verlassen fühlen mussten. Immer war jemand da, der Sie besprach, es war, als zöge man eine große Decke aus Lauten, Silben, Wörtern über Sie. Das ist so geblieben. Auch Mitteilungen unter Erwachsenen gehen meistens den Weg Ohr- rein-Ohr-raus, sind häufiger Sozialgeräusch als Gehalt. Wie das Wetter in Köln ist, wie der Chef im Lift geguckt hat, wofür Lena steht, wie’s geschmeckt hat: Wen interessiert das wirklich? Wenn Menschen miteinander reden, tun sie es nur selten, um einander Bedeutsames mitzuteilen, viel öfter, um einander zu signalisieren, dass sie voneinander Kenntnis nehmen, einander nicht ignorieren. Wer dabei nicht mittut, sorgt für Verstörung. Um sich davon zu überzeugen, muss man sich bloß beim nächsten Telefongespräch dazu zwingen, auf all die »Hhms« und »Jas« zu verzichten, mit denen man üblicherweise die Äußerungen seines Gesprächspartners begleitet – es dauert nicht lang, bis man gefragt wird, ob man noch da sei. 16 000 Wörter täglich spricht der Mensch, hat der Linguist Matthias Mehl von der Universität von Arizona in Tucson ermittelt, indem er 400 Studenten aus den USA und Mexiko mit Tonbandgeräten ausstattete, die sich alle 12,5 Minuten für 30 Sekunden einschalteten. Und daraus errechnete er dann den durchschnittlichen Wörter-Tagesbedarf. Falls Sie sich fragen, wie viel 16 000 Wörter sind: Dieser Text hat bis zum Ende dieses Satzes erst 524 Wörter verbraucht. Wir reden also viel. Sehr viel mehr, als wir müssten, um unseren Alltag am Laufen zu halten. Das trifft übrigens für Frauen und Männer gleichermaßen zu. Der Glaube, Männer wären schweigsamer, ist bloß ein Vorurteil, das sich nicht belegen lässt. Bei den schon erwähnten Untersuchungen Matthias Mehls verwendeten Frauen zwar täglich 546 Wörter mehr als Männer, doch das gilt nach den Regeln der Statistik nicht als signifikanter Unterschied. Weiterlesen auf sz-magazin.de

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