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Winnenden: Notizen aus einer verwundeten Stadt
Von Jochen Kalka Fotos: Toby Binder
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Hunderte von traurigen Gedanken: eine Tafel, die 250 Meter von der Albertville-Realschule entfernt steht. Der Randstreifen an der Straße ist jetzt fast fertig. Hier, gegenüber der Albertville-Realschule, standen die Übertragungswagen der Fernsehsender, dicht an dicht, tiefe Spuren hatten sie in den Fahrbahnrand gegraben, der Asphalt war angebrochen. Als die Fernsehteams weg waren, kamen die Straßenarbeiter. Winnenden macht sich daran, die Spuren zu beseitigen. Vor dem Schulgebäude lagen wochenlang Blumensträuße, jetzt erinnern nur noch ein paar verwelkte Blätter an den Amoklauf vom 11. März. Alles andere ist weggeräumt, die Kränze, die Fotos, die Teddybären, die Glückssteine, die Kerzen, die Briefe, die Buntstifte, die Haarspangen, die sich vor dem Schreckensort an der Albert-viller Straße angesamwimelt hatten. Einige Relikte, heißt es, sollen in einer Gedenkstätte im Rathaus aufbewahrt werden. Zusammen mit dem Kondolenzbuch der Stadt. --------- Die Menschen kommen wieder aus ihren Häusern. Sie gehen auf den Markt. Sie stehen im Supermarkt an der Kasse. »In der ersten Zeit hat ja hier fast niemand mehr eingekauft«, sagt Elke Hafendorfer, die Kassiererin des Rewe-Markts in der Altstadt. »Es war so eine Mischung aus Angst und Schockstarre.« Vielleicht könnte man auch sagen: Einkaufen, Rumräumen, Alltag, das schien plötzlich nicht mehr wichtig. Wer denkt schon an Milchvorräte, wenn die Hölle über einen hereingebrochen ist? --------- In der ganzen Stadt haben Eltern ihren Kindern Tiere gekauft: Hamster, Meerschweinchen, Springmäuse, Hasen. Eine Massen- invasion von Kleintieren. Sie wurden aus Backnang, Weinstadt, aus Fellbach und auch aus Stuttgart angekarrt, denn in Winnenden gibt es keine Zoohandlung. »So nach zwei Wochen ist das losgegangen«, sagt Zdenko Maric, der Filialleiter einer Tierfutter-Handlung in der Innenstadt. Eltern wollen ihren Kindern etwas geben, wofür sie sorgen können, etwas, was ein Gefühl von Verbundenheit schafft. --------- Nie hätte ich gedacht, dass mich dieses Ereignis selbst so schockiert, so lähmt. Dabei darf ich nicht jammern, ich habe kein Kind verloren, keinen unmittelbaren Freund, für meine Familie und mich geht das Leben weiter wie bisher. Nein, stimmt nicht. Es geht natürlich für niemanden hier einfach so weiter. Wir wohnen in Winnenden, meine beiden Töchter gehen hier zur Schule, zum Glück ist es nicht die Albertville-Realschule. Meine Frau ist Lehrerin in Fellbach, rund zehn Kilometer entfernt. Unsere Kinder haben am Tag der Tat in ihren Schulen verfolgt, was passierte, sie erfuhren alles in SMS-Nachrichten von Freunden. --------- »Es wird noch lange dauern, bis die Kinder mit all dem umgehen können«, sagt Bruno-Ludwig Hemmert. Der Mann trägt einen komplizierten Titel, er ist der Sprecher des Kriseninterventions- und Bewältigungsteams der bayerischen Schulpsychologen. Das Team ist seit dem Tag des Amoklaufs in Winnenden im Einsatz. »Noch ist keine Zeit für echte Verarbeitung. Es geht nur um Be-ruhigung. Man darf nicht zu früh glauben, man habe es geschafft.« Das glaubt hier auch keiner. Aber was bleibt den Menschen schon übrig? Sie versuchen, wieder zu etwas Normalität zu finden. Die Lehrer und Schüler der Albertville-Realschule zum Beispiel: Der Unterricht wurde wieder aufgenommen. Nicht in der alten Schule, das will den Kindern niemand zumuten. Also waren sie bisher in den beiden Gymnasien nebenan und in der schräg gegenüberliegenden Geschwister-Scholl-Realschule untergebracht, jetzt sind sie in ein eigenes Quartier umgezogen: ein Containerdorf. Was die Albertville-Realschule angeht, war im Rathaus und im Lehrerkollegium von Umbau die Rede, sogar von Abriss. Mittlerweile steht fest, dass die Schüler eines Tages wieder in das Gebäude zurückkehren sollen. Hier kannst du weiterlesen.