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Projekt Neustart

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Ich muss mein Leben ändern. Ich bin es leid, dass immer andere mein Leben ändern. Von den fünf Zeitschriften, für die ich gearbeitet habe, sind vier eingestellt worden, nur eine hat überlebt. Ich habe zwanzig beglückende, bereichernde, berauschende Berufsjahre hinter mir und vor mir ein großes Fragezeichen. »Vom Schreiben können Sie heute nicht mehr leben, so viel ist sicher«, sagt die Frau von der Arbeitsagentur. Aha. Was soll ich denn bitte sonst machen? »Tja.« Sieht die Arbeitsagentur überhaupt eine Beratung für Leute wie mich vor, die ihren Beruf lieben, von ihrem Beruf aber nicht zurückgeliebt werden? Für all die von der Zeit Überrollten, die Droschkenkutscher, Bergleute, Tipp-Ex-Produzenten unter uns? Hilft denen jemand, einen Plan B zu entwickeln? »Tja. Nee. Wüsste ich jetzt auch nicht. Mal sehen, was wir hier im Netz haben. Bin ich nicht so firm drin.« Sie klickt ziellos durch die Website der Agentur und erzählt dann doch lieber ein paar Anekdoten von Leuten, die sie betreut hat. »Ich hatte mal einen Imam.« Hier komme ich nicht weiter. Es betrifft ja nicht nur mich, es betrifft das ganze Land. Tausende von Stellen werden gestrichen, nicht nur in den Verlagen, auch bei Konzernen wie BMW und Siemens. Jetzt drängt ein Heer von Menschen auf den Arbeitsmarkt, die Berufserfahrung und Referenzen haben, aber wenig Aussichten. Die Statistik sagt: Vor zwanzig Jahren gab es in Deutschland dreißig Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs. Inzwischen sind es drei Millionen weniger. Und wer heute als Journalist arbeitet, bekommt leicht den Eindruck, dass allein zwei Millionen davon in der Medienbranche weggefallen sind. Arbeit, Einkommen, Position – das ist für viele Menschen die Basis ihres Selbstwertgefühls. Was bleibt, wenn von all dem nicht viel bleibt? Der klassische Small Talk kommt ja oft nach wenigen Minuten auf die Frage: »Und was machst du so?« Mittlerweile ist das heikler als die Frage nach sexuellen Vorlieben oder Kindheitstraumata. Die Antwort wird immer schwieriger und ist entweder unangenehm (»Nichts«) oder zu kompliziert (»Also ich mache gerade eine Umschulung und nebenher zwei Aushilfsjobs: bisschen kellnern und abends frei für verschiedene Redaktionen schreiben«). Also, was tun? Profis müssen ran. In Düsseldorf sitzen zwei, die sich »Die Entwicklungshelfer« nennen, Barbara Rörtgen und Tim Prell. Früher haben sie Unternehmen von Puma bis Vodafone beraten, bis sie merkten: Privatleute brauchen es viel dringender, dass ihnen mal einer sagt, wo’s langgeht. Ihre Klienten sind meist Leute »in der gefühlten Lebensmitte«, sagt Prell, irgendwo zwischen 35 und 55. Leute, die jeden Morgen mit einem dumpfen »So geht das nicht weiter«-Gefühl aufwachen. Sozialtherapeuten, Vorstandsvorsitzende, alternde Schauspieler. Die Methode der Entwicklungshelfer soll mich 1900 Euro kosten und ist so simpel wie anstrengend: Von morgens um zehn bis abends um sechs stellen sie die einfachen, aber entscheidenden Fragen, die sonst keiner stellt. Was interessiert Sie wirklich? Was lieben Sie? Welche Gaben haben Sie? Was können Sie besser als andere? Am Ende des Tages ziehen sich die zwei zur Beratung zurück und kommen dann mit ein paar Vorschlägen wieder. So wurde aus einem Investmentbanker der Gründer einer Privatschule, aus einem Marketingberater einer Werbeagentur ein Sportkommentator – den Beratern war seine ausdrucksstarke Stimme aufgefallen, mit der er mitreißend von seiner Liebe für den Sport geschwärmt hatte. Kann das sein, dass man derart blind für das eigene Leben ist? Und ob, sagen die beiden, man steht sich einfach selbst zu nah. Einen Tag lang erzähle ich den beiden also von meinem Interesse für fremder Menschen Wohnzimmer, Brooklyn, Rezeptionsästhetik und das Braten ganzer Tiere, von George Nelsons Buch über die Unterseite von Möbeln und dem Alleinsein. Ich rede über meine Stärken (Neugier, Mut, Schnelligkeit) und Schwächen (Ungeduld, Inkonsequenz), auf einige Fragen weiß ich keine Antwort – »Haben Sie ein Lebensmotto?« –, auf andere zu viele, zu widersprüchliche. Nach einem Acht-Stunden-Tag bin ich leer und die Notizblocks der beiden sind voll. Sie ziehen sich zum Nachdenken zurück. Was werden sie mir raten? Innenarchitektur? (Ich liebe Wohnzeitschriften!) Einen Käseladen? (Ich liebe Käse! Und mein Vater war Edeka-Kaufmann.) Nach einer halben Stunde kommen sie zurück. Und bringen mir schonend bei, dass ich zu den zehn Prozent ihrer Klienten gehöre, denen sie nicht helfen können. Ich soll weiter als Journalistin arbeiten, das sei perfekt. »Sie sind da, wo Sie sind, total richtig.« Und: »Gäbe es eine Alternative, wäre es ein Wunder, wenn Sie nicht schon selbst drauf gekommen wären.« Weiterlesenauf sz-magazin.de: Fast jeder zweite Deutsche arbeitet nicht in dem Beruf, den er mal erlernt hat.

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