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Nadine war 10 Jahre und magersüchtig. Wie ihre Mutter für sie kämpfte
Von: Verena Stehle (Protokoll); Sabine Höroldt (Foto)
Nadine führte Krieg, und das Schlachtfeld war ihr zehn Jahre alter Körper. Der Zwieback war die Waffe in diesem Kampf. Wenn andere sich zum Essen setzten, griff Nadine zum Zwieback. Zuerst nagte sie die Kruste ab, rundherum. Dann aß sie den Rest, ganz langsam. Am Anfang noch dreißig Stück am Tag. Aber die Portionen wurden kleiner, die Mahlzeiten unregelmäßiger.
Nadine ist meine kleine Tochter und sie ist magersüchtig. Aber nicht, weil sie dünn sein will, auch wenn das alle immer denken. Diese Krankheit schleicht sich ganz leise heran und hat meistens andere Gründe: vielleicht den Konkurrenzkampf mit der Mutter, die falsche Erziehung, zu hohe Erwartungen, vielleicht eine Ehekrise der Eltern. Oder alles zusammen. »Multikausal« nennen die Ärzte es dann. Das kann in einer ganz normalen Familie passieren. Wir wohnen in einem Haus in einem Münchner Vorort, mein Mann ist Systemtechniker bei einer großen Firma, ich bin Verkäuferin in einer Metzgerei. Und plötzlich hatten wir ein Problem, mit dem wir alle überfordert waren.
Auslöser war ein Streit im März 2006. Mein Mann war auf einer Reise und Nadine wollte im Ehebett schlafen. Aber sie war zehn Jahre alt, sie hat ein eigenes Bett. Das »Nein« akzeptierte sie nicht und begann zu schreien und zu heulen, bis ich mir nicht mehr zu helfen wusste und mich im Schlafzimmer einschloss. Keine Glanzleistung, ich weiß. Eine Dreiviertelstunde lang hämmerten ihre Fäuste noch gegen die Tür.
Am nächsten Morgen wollte Nadine nicht zur Schule gehen. Sie sagte, ihr sei schlecht. Kein Wunder, sie war nach dem Tobsuchtsanfall völlig übermüdet. Ich erlaubte ihr, zu Hause zu bleiben. Kochte eine Kanne Kamillentee, brachte ihr Zwieback. Wer krank ist, bekommt Krankenkost. So fing alles an. Von diesem Tag an aß Nadine nur noch Zwieback, trockenes Weißbrot und Nudeln ohne Soße. Fünf Monate lang, ohne Ausnahme, bis auf ein winziges Stückchen Geburtstagskuchen im Juni. Ich hoffte, dass Nadine nur eine blöde Phase hätte. Im Nachhinein war das idiotisch. Aber Kinder haben manchmal Phasen mit merkwürdigen Vorlieben, und sogar die Kinderärztin meinte, das gehe vorbei. Damals wog Nadine 32 Kilo.
Von einem Tag auf den anderen wollte Nadine dann nur noch Zwieback. Den ordinären Krankenzwieback, ohne Butter, ohne alles. Dazu trank sie Kamillentee oder Wasser. Das war Anfang August. Auf die Frage nach dem Warum sagte sie nur: »Weil ich nichts anderes essen kann. Ich habe Angst, dass mir schlecht wird.« Mein Mann und ich taten das anfangs als Spinnerei ab, die sie nicht durchhalten würde. Aber nach einigen Tagen wurden wir nervös. Also taten wir das, was wohl alle Eltern in einer solchen Situation tun würden: Wir versuchten mit Nadine zu reden. Erklärten ihr, wie wichtig ausgewogene Ernährung sei. Und wie ungesund es sei, bloß Zwieback zu essen. Nadine verdrehte nur die Augen.
Hier findest du den zweiten Teil der Geschichte auf sz-magazin.de