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Mahlen nach Zahlen

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33 ist irgendwas mit Gemüse. 36 ist das Gleiche mit Ente. 61 ist süß-sauer, oder war das die 62? Der Unterschied zwischen 27 (Huhn mit Reis) und 28 (Reis mit Huhn) bleibt erst mal unklar. Und irgendwo weiter hinten in der Speisekarte geht’s dann sogar noch mit dreistelligen Zahlen weiter. Beim Chinesen zu bestellen, das erinnert immer ein bisschen an den alten Witz: In einer Kneipe sitzen drei Männer und erzählen sich Witze. Weil sie schon alle kennen, haben sie die Witze nummeriert und sagen nur noch die Nummern. Sie lachen sich jedes Mal kaputt. Da kommt ein fremder Mann dazu und sagt auch eine Nummer. Betretenes Schweigen. Schließlich sagt einer von den dreien: »Na ja, wissen Sie, der Witz war schon gut, aber man muss ihn auch erzählen können.« Chinesische Gerichte sind schon gut, aber man muss sie auch bestellen können. Der Bonner Kulturanthropologe Gunther Hirschfelder, der sich seit vielen Jahren mit deutschen Essgewohnheiten befasst, sagt: »Durch die Zahlen wird im Chinalokal die Kommunikation radikal vereinfacht. Das System ist so verblüffend funktional, dass man fast glauben könnte, da hätten Marketingexperten die Gastro-Szene gescreent und nach idealen Formen gesucht.« Es gibt Menschen, die im Feinkostgeschäft in letzter Minute Emmentaler kaufen, weil sie Chabichou du Poitou nicht aussprechen können. Solche Situationen vermeiden chinesische Wirte souverän. »Zudem wird heute Geschwindigkeit in der Gastronomie immer mehr als zentrales Qualitätsmerkmal gesehen«, sagt Hirschfelder. »Wir dürfen also das Bestellsystem im Chinarestaurant als optimierten Prozess begreifen – es suggeriert: Hier ist alles bestens.« Eine beruhigende Wirkung, die auch schon eine Rolle spielte, als die ersten chinesischen Restaurants in Deutschland eröffneten: Damals, in den Sechzigerjahren, fanden die Gäste die höhlenartigen Lokale mit den geschnitzten Drachen und den Bambustapeten exotisch, aber auch ein bisschen unheimlich – die Zahlen nahmen ihnen die Angst vor dem Fremden. Dabei hätten die Gerichte eigentlich die wundervollsten Namen. Zum Beispiel »Seidenregen und einsame Wolken«, eine Suppe mit dünnen Nudeln und weißen Pilzen. Oder die legendäre Gemüsebrühe namens »Buddha hüpft vor Freude über die Mauer«. Aber was helfen einem schon die Übersetzungen – der Gast wäre halb verhungert, bis er dem Kellner Buddha, die Freude und die Mauer erklärt hätte. Es gibt vielleicht noch einen anderen Grund für die nummerierten Speisen: Der englische Wissenschaftsautor Malcolm Gladwell beschreibt in seinem Buch Überflieger: Warum manche Menschen erfolgreich sind – und andere nicht, dass chinesische Kinder den Umgang mit Zahlen viel schneller lernen als europäische oder amerikanische. Die Zahlwörter sind im Chinesischen kürzer und simpler (vierzigeins statt einundvierzig, zehnzwei statt zwölf). Chinesische Kinder, schreibt Gladwell, haben einen »eingebauten Vorteil«, angeblich können die meisten im Alter von vier Jahren schon bis vierzig zählen. Da erscheinen Zahlen in der Speisekarte später als ganz natürlich.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Interessant ist aber, dass die Chinesen auch Zahlen anbieten, die ihnen selbst ungeheuer sind. Die Vier zum Beispiel ist ein Zeichen für Unheil, weil »vier« auf Chinesisch so ähnlich klingt wie »Tod«. In chinesischen Hochhäusern fehlt oft die vierte Etage, aber dem deutschen Restaurantbesucher will man es ja nicht unnötig schwer machen, also darf er die Nummer 44 extra scharf bestellen, Geschäft ist Geschäft. Und was halten Spitzenköche von den Zahlen? Anruf bei Vincent Klink, Chef des Stuttgarter Sternerestaurants »Wielandshöhe«. »Na ja, Appetit machen sie nicht gerade«, brummt der Schwabe, »aber praktisch sind sie. Ich war mal mit meiner Frau in London bei einem Asiaten. Da hätte ich kein einziges Gericht aussprechen können, aber ›twenty-two‹ hab ich grad noch geschafft.« Zahlen auf der Speisekarte: das bessere Esperanto. Kurzer Schwenk rüber zu den Kulturpessimisten. Die sitzen am Tisch in der Ecke, blättern schlecht gelaunt in der Speisekarte rum und maulen, es sei ein schlimmes Zeichen von Verfall, wenn statt Speisen nur Zahlen geordert werden. Da gehe alles Mögliche verloren. Nein, sagen wir und lassen sie in der Ecke sitzen, im Gegenteil, wir gewinnen eine Ebene dazu: wortreiche Namen für Gerichte gibt es in allen Restaurants, von sachlich-nüchtern (Schweinebraten mit Knödel) bis bizarr (Zart angeschäumte Filetspitzchen an/auf/über irgendwas) – dagegen bilden die Zahlen im Chinarestaurant eine ganz eigene kulinarische Sprache, wiedererkennbar wie die Pizza-Liste beim Italiener oder die Burger-Varianten bei »McDonald’s«. Vielleicht sind die Chinesen mit den Zahlen, die einfach nur praktisch gedacht waren, auf etwas gestoßen, was sogar noch mehr wert ist als jede Beschreibung beim Italiener oder im französischen Feinkostrestaurant: Sie geben uns ein Gefühl von Sicherheit und Klarheit. Gunther Hirschfelder sagt: »In unserer binären Welt wird alles auf Zahlen reduziert und computerisiert – also glauben wir, was numerisch gefasst ist, ist geordnet. Anders gesagt: Zahlen signalisieren Wahrheit.« Schön. Und trotzdem: Die Wahrheit kann auch ziemlich verwirrend sein. Beim Bestellen rufen alle irgendwelche Nummern durcheinander, keiner kann sich merken, welche Zahl für welches Gericht stand, und bis das Essen kommt, hat man längst vergessen, ob man 35 oder 53 wollte. Vielleicht wäre es manchmal sinnvoll, dem Kellner einfach irgendeine hohe Zahl zuzurufen und zu hoffen, dass der Koch sie von selbst in ein paar gute Einzelgerichte aufteilt. Wir nehmen dann mal 324. Danke. Noch viel mehr Texte zum Thema "Essen&Trinken auf asiatisch" gibt es in der aktuellen Ausgabe des SZ-Magazins

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