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Von Christian Krug Fotos: Axel Martens Thiago Neves balanciert seine Baggypants knapp unter der Hüfte und trägt übergroße Sneakers, die seinen Schritt ein wenig an Charlie Chaplin erinnern lassen. Die brillantbesetzten Ohrringe funkeln unter den Spotlights, die im Geschäftstrakt des HSV-Stadions die gute alte Zeit beleuchten. Neves schlendert an den Heroen des Clubs vorbei und würdigt sie keines Blickes. Lebensgroß hängen die Bilder von Uwe Seeler und seinen Gefährten an den Wänden, schwarz-weiße Zeugnisse einer Epoche, in der nur ein einziger Spieler nicht aus Hamburg kam: Jürgen Kurbjuhn. Der kam aus Buxtehude, von der anderen Elbseite aus Niedersachsen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Thiago Neves steht für eine neue Zeit beim Hamburger Club, eine Zeit, in der der Fußballverein zu den Großen in der Welt aufschließen will. Mit ihm im Zentrum. Einem brasilianischen Nationalspieler! Nur: So richtig angekommen ist der 23-Jährige auch nach vier Monaten noch immer nicht in der Hansestadt. Das liegt vielleicht auch an den anhaltenden Sprachschwierigkeiten. Deshalb wird er von einem Dolmetscher begleitet, der ihn umsorgt wie ein elternloses Kind auf einem Flug in eine ferne Stadt. Der Übersetzer, ein Soziologie-Student, steuert Thiago Neves zu einer schwarzen Ledercouch. Der Spieler macht einen fröhlichen Eindruck. Das kann nicht von seinen sportlichen Erfolgen herrühren. Er wurde von seinem Trainer Martin Jol in der Vorrunde der Bundesligasaison kaum eingesetzt. Der Holländer wollte ihn zwar unbedingt haben, aber so dringend nun auch wieder nicht, dass er ihn jetzt auch immer spielen lässt. Neves sagt: »Ich hatte unheimliches Glück. Ich komme aus einer sehr armen Familie. Meine Mutter musste für uns arbeiten, damit wir überhaupt etwas zu essen hatten.« Neves macht eine lange Pause, in der klar wird, dass es in seiner Jugend nicht um Playstations ging, sondern ums Überleben in einer Favela. Der Vater hatte sich von der Familie früh getrennt. »Als ich klein war, wollte ich nur auf den Platz. Ich ging morgens aus dem Haus, und meine Mutter dachte, ich gehe zur Schule. Ich bin aber immer nur Fußball spielen gegangen.« Der Vater eines Freundes war der Clubmanager eines größeren Vereins. Als er merkte, dass Neves außergewöhnliches Talent hat, gab er ihm und seiner Familie etwas Geld, holte ihn mit dem Auto zum Training ab und nahm ihn unter Vertrag. »Andere waren mindestens genauso gut, vielleicht sogar besser, aber ich bin der Einzige, der es geschafft hat, Profi zu werden.« In Hamburg kennt er mittlerweile zumindest das Portugiesen-Viertel am Hafen und einen Friseursalon, der ihm günstig blonde Strähnchen zauberte. Sehr zum Ärger der Clubführung. Der solle doch erst ein paar Mal gut spielen, dann könne er sich um sein Styling kümmern, sagt einer seiner Vorgesetzten und stöhnt richtig dabei. So als ob eine dunkle Vorahnung des Misserfolges in der Luft liege. Und das käme teuer. Denn Neves ist eine menschliche Aktie. Einer von mehr als 5000 brasilianischen Spielern, die mittlerweile im Ausland Profis sind. Spielt er gut, steigt seine Aktie, spielt er schlecht, sinkt sie. Spielt er gar nicht, droht Totalverlust. Neves weiß das. Er sagt: »Ich habe mich daran gewöhnt, eine Handelsware zu sein.« Vor dem 4. August gehörte die Aktie Neves zu 66 Prozent dem brasilianischen Supermarktbesitzer Delcir Sonda. Der hatte die Mehrheit der Anteile an den »ökonomischen Rechten«, wie man heutzutage sagt, von den Vorbesitzern gekauft, die die Karriere von Neves vorfinanzierten. Das Geschäft mit den Verkaufsrechten an den Spielern ist in Brasilien zu einem millionenschweren Wirtschaftszweig geworden, und Delcir Sonda hat jetzt nicht nur Rumpsteaks, Tütensuppen und Tiefkühlgemüse im Angebot: Seit ein paar Jahren vertreibt der Multimillionär aus São Paulo neben Rinderhälften auch kostbare Zweibeiner. Zehn Millionen US-Dollar investiert die Sportabteilung der Supermarktkette jedes Jahr in junge Talente, siebzig junge Spieler hat sie schon unter Vertrag. Aber die Konkurrenz schläft nicht. Auf der Internetseite des legendären Fußball-Paten Juan Figer können Konkurrenzangebote eingesehen werden. Man kann sich auch gleich verlinken lassen zu transfermarkt.de. Dort sind die Paketpreise ganzer Mannschaften abgedruckt. Hier kannst du weiterlesen.