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Hacke, Spitze, Tor …
von AXEL HACKE
Argentinien gegen Serbien-Montenegro habe ich nicht gesehen, ich weiß nicht mehr, warum. Weiß nur noch, dass ich es am nächsten Tag als Fehler empfand. Sechs zu null. Ein Spielzug der Argentinier über 26 Stationen, so schön, dass er als Diagramm in der SZ abgebildet wurde. Man müsste sich das von Riquelme signieren lassen und an die Wand hängen, dachte ich, ein Kunstwerk. Ich las alles über das Spiel und versuchte zu vergessen, dass ich es nicht gesehen hatte, ja, ich rede jetzt bisweilen mit anderen Leuten so, als hätte ich das Spiel gesehen. Vielleicht wird der Tag kommen, an dem meine eigene Erinnerung verschwimmt, an dem ich selbst denken werde, ich hätte es gesehen, und an dem ich zu jemand anderem sage: »Gott, was war das für ein herrliches Spiel, und dieser Spielzug über 26 Stationen, Rodríguez am Anfang, Cambiasso am Schluss, ich sehe ihn vor mir.«Die Verlängerung von Argentinien gegen Mexiko habe ich nachts in einem Hotelzimmer ohne Ton gesehen, um meine schlafende Frau nicht zu stören. Bei Spanien gegen Frankreich bin ich zum ersten Mal selbst eingeschlafen, obwohl es spannend war, aber ich konnte nicht mehr, ich konnte nicht mehr, liebes Spanien, es tut mir Leid, deine Träume zerbrachen in dieser Nacht, aber ich träumte von etwas anderem …
Brasilien gegen Japan – da habe ich erstmals abgeschaltet, es stand schon 3:1 für Brasilien, und vom 4:1 habe ich im Bett liegend gehört, denn hundert Meter von unserer Wohnung entfernt befindet sich ein Biergarten, in dem eine Leinwand stand. Die Torschreie drangen bis ins Schlafzimmer: Public Viewing, private listening.
Wenn ich während der Vorrunde nicht einschlafen konnte, murmelte ich Namen der Spieler der Elfenbeinküste: Arouna Koné, Bakary Koné, Kolo Touré, Yaya Touré, Siaka Tiené, Abdoulajé Meité, Emmanuel Eboué …
Deutschland gegen Schweden: Ich sah es auf einem Kindergeburtstag. Eltern und Kinder versammelten sich vor dem Fernseher. Dann die deutsche Hymne. Die Zehnjährigen erhoben sich langsam, legten einander die Arme auf die Schultern und sangen mit zarten Stimmen, zögernd zunächst, nicht bis zum Schluss textsicher, aber doch: »Einigkeit und Recht und Freiheit…« Ein anrührender Moment. Und wissen Sie was? Ich habe mitgesungen.
Aber ich habe keine Deutschlandfahne aus dem Fenster gehängt und auch keine am Auto befestigt. Ich kann das nicht. Nichts dagegen, wenn die Leute das tun, ich tue es nicht, gerade weil viele Leute es tun. Nach dem Sieg gegen Schweden war ich allerdings in der Stimmung, an einem Autokorso teilzunehmen, um meiner Freude Ausdruck zu verleihen. Bloß hatte ich das Spiel in einem kleinen Dorf im Chiemgau gesehen, von dem aus ich abends in ein anderes kleines Dorf fuhr. Nirgends ein Auto. Bloß Kühe, die mich mit Ronaldohaftem Blick betrachteten und mein Hupen nicht würdigten.
Wo war eigentlich Normaldeutschland während der WM, das mürrische Standarddeutschland unserer sonstigen Tage? War es – weg? Nein, ich bin ihm begegnet, mitten in München, am Abend nach einem großen Spiel. Da radelten wir durch die Stadt, saßen für ein Stündchen im Hofgarten, radelten wieder heim und kamen an einer Buchhandlung vorbei. Es war Viertel vor zehn, und die Buchhandlung hatte geöffnet.
Ich bin jetzt fünfzig Jahre alt, aber noch nie habe ich erlebt, dass abends um Viertel vor zehn eine deutsche Buchhandlung geöffnet hat. Wir stiegen von den Rädern, um uns die Sensation anzusehen. Betraten den Laden, während eine Verkäuferin die ersten Buchständer vom Trottoir nach drinnen schob.
»Was wäre das für ein ganz anderes Lebensgefühl, wenn es immer so wäre!«, schwärmten wir.
»NA, DANKESCHÖÖÖN!«, sagte gallig die Verkäuferin und schubste ihren Buchständer in den Laden. Weiter sagte die Frau nichts, sie lachte bloß höhnisch. Wir betraten den Laden nicht mehr froh, sondern im Gefühl, anderen Leuten die Zeit zu stehlen.
Ein paar Tage später, es war Samstagmittag und um fünf Uhr sollte Deutschland gegen Schweden spielen, rollte ich im Baumarkt gleich zwei schwere Einkaufswagen an die Kasse, begann auszupacken, während die Kassiererin schon Zahlen in die Kasse tippte, und bekam ein schlechtes Gewissen, weil hinter mir ein einzelner Herr mit einem Wagen heranrollte, in dem sich nur einige Topfpflanzen und eine Deutschlandfahne befanden.
»Da hinter der Wand sind noch mehr Kassen«, sagte ich. »Da steht niemand an, Sie wären gleich dran.«
»Interessiert mich nicht«, knurrte er.
»Aber es sind nur fünfzig Meter.«
»Das Personal soll zu mir kommen. Ich geh nicht zum Personal. Ich bin nicht für die da, die sollen für mich da sein.«
»Da hinten sind sie auch für Sie da.«
Es half nichts, er murrte und wartete, eine Viertelstunde lang, denn ich hatte viele Sachen in meinen beiden Wagen. Er war fest entschlossen, sich von niemandem die schlechte Laune nehmen zu lassen, ich fürchte, nicht mal Podolski ist es gelungen.
Als wir das Schweden-Spiel sahen, kamen zwei Erwachsene eine halbe Stunde zu spät. Das Spiel hatte sie nicht genug interessiert, um pünktlich zu sein, sie verpassten eine der herrlichsten halben Stunden, die es im deutschen Fußball je gab, aber es war ihnen egal. Bemitleidenswerte Menschen, dachte ich. Wie kann man so gleichgültig sein!? Später fand ich es plötzlich großartig: dass Leute in der Lage sind, sich zu entziehen; dass sie einfach was anderes machen. Am liebsten hätte ich auch damit begonnen. Kein Interesse mehr am Fußball zu haben. Es ist mir nicht gelungen.
Ein Fernsehkommentator, dessen Namen ich vergessen habe: »Es steht mir wirklich nicht zu, die Bundeskanzlerin zu kritisieren, aber sie könnte ja auch mal ihren Mann mitbringen.«
Das ist Spießertum. So von unten leise maulen. Warum soll sich einer zum Fußball mitbringen lassen, dem Fußball schnuppe ist?
Außerdem in dieser Woche auf sz-magazin.de:
Das letzte große Interview mit Rudi Carrell vor seinem Tod.
Ein Gespräch mit Jürgen Klinsmann im Sommer 2005.