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Graeter hinter Gittern
Niemand hat was gegen eine gute Nummer. Auch gegen die Ziffern »10108« wäre nicht viel einzuwenden. Doch diese fünf Zahlen markieren den Gang durch die Hölle im Herbst meines Reporterlebens. Die Nummer 10108 war ich. Unter dieser Buchungsbezeichnung wurde ich in der Festung Landsberg geführt, dem bayerischen Alcatraz, wo schon Hitler, Heß, Flick, Krupp und zuletzt Karl-Heinz Wildmoser junior zu den Patienten zählten. Als Häftling 10108 wurde ich für acht Monate aus meinem Leben gerissen, genau 239 Tage und Nächte war ich lebend tot. Meine Seele trug Trauerrand und oft hätte ich vor Wut blindlings gegen Wände und Türen laufen wollen. Statt im warmen Ehebett verbrachte ich die Nächte auf einer Doppelstock-Liege, über mir ein schnarchender Herr aus Hannover. Statt blauem Blazer von Ralph Lauren trug ich einen blauen Spengleranzug mit Meterstab-Tasche; statt Calvin-Klein-Slips Einheitsunterhosen aus beidseitig tragbarem Doppelripp, die im Ernstfall bis zum Wäschetausch am Donnerstag durchhalten. Das Mittagessen im Knast bestand aus einer rekordverdächtigen Anzahl von Gulasch-Variationen. Die angeblich medizinisch ausgetüftelte Dampfkost verursachte unterschiedliche Stuhlgang-Varianten: entweder Blockade oder Chinaböller. So gesehen war eigentlich jeden Tag Silvester im Kittchen. Kulinarische Aufbesserungen waren nur zweimal im Monat möglich, wenn der Gefängnis-Supermarkt geöffnet wurde. Ein Normalverbraucher wie ich durfte 42 Euro ausgeben, sowie noch mal 16 Euro für Briefmarken, die merkwürdigerweise als einziges Zahlungsmittel für Pflegeprodukte wie Nivea-Milch oder Deos dienten. Ich lernte, meine Angst- und Hassgefühle so gut wie möglich zu tarnen; erst zur Halbzeit meines Gitterstäbe-Melodrams begannen sich diese zu verflüchtigen. Die letzten vier Monate saß ich in der JVA Rothenfeld, einem Neobarock-Schlösschen mit leicht baufälligem Kirchturm, idyllisch in der Nähe von Kloster Andechs gelegen. Deutschlands schönstes Kittchen taufte ich »Schlossgut Rothenfeld«, wobei das Wort Schloss sich mehr auf Schließen bezieht. Von meiner »Suite«, einem Erker mit vier Meter hohen Fenstern, beobachtete ich seltene Vögel und mir wurde der seltsame Rollenwechsel bewusst: Sie flatterten in der Freiheit – und ich Vogel saß im doppelt gesicherten Käfig: massive Eisenstangen und davor ein Maschendraht, wie man ihn für Hasenställe verwendet. Bevor ich die trügerische Idylle von Rothenfeld genießen durfte, durchlief ich die Hölle auf Erden. Tief und wohlig lag ich am 21. Januar 2008 in den Daunen meines Doppelbetts in Zimmer 33 des Züricher »Tivoli«-Hotels. Ich glaube mich zu erinnern, von einem Ausflug mit einem kleinen Wasserflugzeug und von einer attraktiven Pilotin geträumt zu haben. Doch um 6.42 Uhr fiel plötzlich eine Art Fallbeil. Drei Männer in dunkelblauen Kampfanzügen standen um mein Bett herum. Überfall? Fernsehkrimi? »Polizei«, stellten sich die durchtrainierten Ordnungshüter vor. Ich begann zu zittern. Der Anführer des Trios, der mit seinem Kurzhaarschnitt wie die Züricher Regionalausgabe von Mel Gibson wirkte, sagte freundlich, aber bestimmt: »Herr Graeter, ziehen Sie sich jetzt an, Sie sind verhaftet.« Von Michael Graeter Hier kannst du weiterlesen: Anlass war eine sechs Jahre alte Bewährungsstrafe wegen eines Wirtschaftsdelikts.