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Flucht nach vorn
ehrmals in der Woche fährt Sergey Brin nach der Arbeit von der Google-Zentrale im kalifornischen Mountain View ins örtliche Schwimmbad. Dort schlüpft er in die Badehose, steigt aufs Dreimeterbrett, wirft einen Blick in die Tiefe und springt. Brin beherrscht alle Sprungarten, seit Kurzem arbeitet er intensiv an den Schrauben. Kunstspringen fasziniert ihn, denn es ist körperlich wie geistig gleichermaßen anstrengend: »Man muss volle Kanne abspringen und sofort die Drehung einleiten«, sagt er, »da geht der Puls schon hoch.« Die Sache hat noch einen anderen Vorteil: Mit jedem Sprung vom Brett sammelt Brin ein paar Pluspunkte. Pluspunkte gegen die Gefahr, dass eines Tages die Parkinson-Krankheit bei ihm ausbricht. In jeder Zelle seines Körpers – genauer gesagt, in einem Gen namens LRRK2, das auf dem Chromosom 12 sitzt – verbirgt sich eine genetische Mutation, die vermutlich ein höheres Parkinson-Risiko bewirkt. Nicht jeder Parkinson-Patient hat ein mutiertes LRRK2-Gen; auch wird nicht jeder mit diesem mutierten Gen an Parkinson erkranken. Doch die Wahrscheinlichkeit ist um 30 bis 75 Prozent erhöht. Im Vergleich dazu liegt das Risiko für den Durchschnittsamerikaner bei etwa einem Prozent. Brin selbst sagt, als Mittelwert lasse ihm seine DNS also ungefähr eine Fifty-fifty-Chance. An dieser Stelle kommt der Sport ins Spiel: Die Erkenntnisse über Parkinson sind bislang nur sehr dünn, aber eine Studie zeigt, dass junge Männer, die Sport treiben, ein bis zu 60 Prozent geringeres Risiko tragen. Kaffeekonsum scheint das Risiko ebenfalls zu reduzieren und auch Raucher laufen anscheinend weniger Gefahr, an Parkinson zu erkranken, aber das Rauchen hat sich Brin dann doch nicht angewöhnt. Durch jede Trainingseinheit im Schwimmbad hofft er seine Chancen zu verbessern: »Nehmen wir mal an, dass ich durch richtige Ernährung und Sport mein Risiko um die Hälfte reduzieren kann, dann bin ich bei 25 Prozent.« Aber Brin tut noch mehr. Als einer der Gründer von Google ist der Mann theoretisch 15 Milliarden Dollar schwer. Seit er von seiner LRRK2-Mutation erfuhr, hat er 50 Millionen Dollar für die Parkinson-Forschung gespendet, genug, um, wie er sagt, »die Sache wirklich ins Rollen zu bringen«. Schon immer haben wohlhabende Menschen Mittel zur Erforschung von Krankheiten bereitgestellt, an denen sie selbst litten. Brin ist aber wahrscheinlich der Erste, der aufgrund eines Gentests Gelder zu Forschungszwecken spendete, um damit einer eigenen Erkrankung vorzubeugen. Doch damit lässt er es nicht bewenden: Er fordert eine ganz andere Art von Wissenschaft. Der größte Teil der klassischen medizinischen Forschung folgt der immer gleichen Vorgehensweise: Hypothese – Analyse – Bewertung durch Kollegen – Veröffentlichung. Brin dagegen will eine Forschung vorantreiben, die auf Rechenkapazität und gigantischen Datensätzen beruht – das Google-Prinzip. »Medizinische Forschung läuft im Vergleich zu dem, was ich vom Internet gewöhnt bin, im Schneckentempo ab. Dabei könnten wir auf vielen Gebieten gleichzeitig agieren und dabei eine Menge Informationen sammeln. Und dann schauen, ob wir darin irgendein Schema entdecken.« Anzeige
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Brins Mutter leidet an Parkinson, doch Brin sah darin keinen Zusammenhang; Parkinson galt lange Zeit als nicht erblich. Dann hob seine Ehefrau Anne Wojcicki 2006 das Unternehmen 23andMe aus der Taufe, eine Firma für persönliche Genforschung (Google ist einer der Geldgeber). Als Alpha-Tester bekam Brin die Gelegenheit, früh einen Blick auf sein Genom zu werfen. Er sah nichts Beunruhigendes. Dann aber sagte seine Frau, er solle sich einen Bereich mit der Bezeichnung G2019S näher ansehen – den Abschnitt auf dem LRRK2-Gen, an dem ein Adenin-Nukleotid, das A im ACTG-Code der DNS, manchmal durch ein Guanin-Nukleotid, das G, ersetzt ist. Und da sah er: Die Mutation lag bei ihm vor. Und: Die Auswertung von 23andMe für seine Mutter ergab das gleiche Resultat.
Brin konsultierte Experten, zuerst die Forscher der Michael-J.-Fox-Stiftung und des kalifornischen Parkinson’s Institute, das nicht weit von der Google-Zentrale entfernt liegt. Und war erst mal enttäuscht: Seit Jahrzehnten führt die Parkinson-Forschung in den USA ein Schattendasein. Alzheimer zum Beispiel erfährt mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, da zehnmal mehr Amerikaner daran leiden als an Parkinson. Das, was man über Parkinson weiß, stammt tendenziell eher aus der Patientenbeobachtung im Klinikalltag als aus den Erkenntnissen langjähriger Forschung. Fast alle Fälle werden als idiopathisch eingestuft, das heißt, man findet keine erkennbaren Ursachen. Im Grunde ist die Krankheit eine Folge des Verlusts von Gehirnzellen, die den neuronalen Botenstoff Dopamin produzieren; doch weshalb diese Zellen absterben, ist unklar. Die klassischen Symptome der Erkrankung – Muskelzucken, Gliederversteifungen, Gleichgewichtsstörungen – setzen nur allmählich ein und zeigen sich gewöhnlich auch erst, wenn die Dopaminproduktion um etwa 80 Prozent abgenommen hat, was bedeutet, dass jemand die Krankheit schon jahrelang in sich tragen kann, bevor er erste Symptome zeigt.
Was Therapien angeht, ist das Medikament Levodopa, das bereits 1967 entwickelt wurde, nach wie vor das wirkungsvollste. Es wird im Gehirn zu Dopamin umgewandelt, hat aber leider erhebliche Nebenwirkungen, darunter unkontrollierte Zuckungen und geistige Verwirrung. Andere Eingriffe wie etwa die sogenannte Tiefe Hirnstimulation sind teuer. Und die Stammzellenbehandlung, die vor einem Jahrzehnt verheißungsvoll schien, »griff nicht so richtig«, wie der Leiter des Parkinson’s Institute, William Langston, sagt. »Der Transfer von Nervenzellen und die Wiederbelebung des Gehirns waren komplizierter, als man allgemein dachte.«
Es gibt allerdings auch vielversprechende Ansätze: Einer der spannendsten Forschungsbereiche ist die zeitliche Differenz zwischen dem Verlust der Dopamin-produzierenden Zellen und dem Ausbruch der Symptome. Bisher erschwert diese Verzögerung die Behandlung erheblich. »Bis zum vollständigen Ausbruch von Parkinson vergeht viel zu viel Zeit«, sagt Langston. »Die aussichtsreichen Medikamente haben vielleicht deshalb nichts bewirkt, weil wir erst so spät eingreifen können.«
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Text: jetzt-redaktion - Foto: Justin Sullivan/Getty; Reuters; DPA; Illustration: Dirk Schmidt