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Eine zweite Chance für Wales

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Wales Beim ersten Mal: drei Tage Dauerregen, fünf Leute im Wohnmobil – und jede Menge Ärger mit den Schwestern. Beim zweiten Mal schien die Sonne und auf einmal merkte unser Autor: Erst der Regen bringt diesen Landstrich zum Blühen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Jetzt wird es ernst. Am anderen Ende der Brücke lauert Wales. Die Severn Bridge bildet die Grenze zu England. Noch glänzen die Stahlträger im Sonnenlicht. Ein Postkarten-Bild. »Fast wie die Golden Gate Bridge«, jubelt Yvonne, meine Mitbewohnerin in München, die mich begleitet. »Ja«, sage ich und denke mir: Sie wird schon se-hen. Klar, noch ist der Himmel über Wales blau. Noch weht warme Meeresluft ins Auto. Noch verstehe ich mich blendend mit meiner Mitreisenden. Sobald wir walisischen Boden betreten, wird sich das alles ändern. Ich kenne Wales nämlich. Dieses Land ist eine Katastrophe. Ich war als Kind dort, mit meinen zwei Schwestern und den Eltern. In der Sekunde, in der unser Wohnmobil damals die walisische Grenze überquerte, begann es zu regnen. Erst in Strömen, dann in Sturzbächen. Es hörte drei Tage lang nicht mehr auf. Bei Regen wird es in einem Wohnmobil ziemlich langweilig. Bei Regen kann man sich in einem Wohnmobil nicht gut aus dem Weg gehen. Bei Regen fällt man sich in einem Wohnmobil ziemlich schnell auf die Nerven. An unserem ersten Tag in Wales schrieb meine Mutter abends ins Reisetagebuch: »Es regnet. Die Kinder streiten den ganzen Tag.« Wales stellte unsere Familie auf eine harte Probe; und ehrlich gesagt habe ich Angst davor, Yvonne könnte in ein paar Tagen allein in einen Flieger steigen. Während wir über die gut fünf Kilometer lange Hängebrücke fahren, versuche ich ruhig zu bleiben. Ich konzentriere mich auf den Linksverkehr, der für sich genommen schon eine Frechheit ist. Yvonne hyperventiliert fast vor Freude. Sie ist etwas überfordert damit, gleichzeitig vor Freude zu schreien und den Blick von der Brücke auf die sonnig schimmernde Bucht zu fotografieren. Yvonne weiß nicht, was sie erwartet. In Wales war sie noch nie. Dann das Schild: »Croeso i Gymru« – »Willkommen in Wales«. Sicher, Wales wäre ein tolles Land. Großartig sogar: Überall zauberhafte Schlösser und Burgen, schroffe Steilküsten, einsame Strände, grasgrüne Hügel und sogar wilde Pferde. Als ich das mit den Pferden Yvonne auf dem Hinflug erzählte, vergaß sie mit einem Mal ihre Flugangst und umarmte in Gedanken schon süße wilde Fohlen. Jetzt fahren wir trotzdem erst mal nach Cardiff. Bei Regen können wir dort zumindest ins Kino gehen oder ins Theater. Auf dem Weg in die walisische Hauptstadt verpassen wir drei Abfahrten, weil meine Beifahrerin sich schwer tut, Ortsnamen wie Cwmbran, Pontrhydyfen oder Cvmyoy so auszusprechen, dass ich sie auf den Schildern auch wieder erkenne. Außerdem drehe ich in einigen der gefühlten 500 Kreisverkehrsinseln so lange Ehrenrunden, bis mich ein Auto überholt und demonstriert, wie man links fahrend rechts abbiegt, ohne zum Geisterfahrer zu werden. Auf der Terrasse eines Restaurants direkt im Segelhafen von Cardiff essen wir Haifischsteaks. Wir essen draußen, weil es immer noch nicht regnet. Etwas später setzt sich der ungarische Barkeeper zu uns und erzählt, wie in München vor ein paar Jahren ein Rolls-Royce neben ihm hielt und ein Typ mit pechschwarzer Perücke wissen wollte, wo denn der Hauptbahnhof sei, obwohl der nur 300 Meter entfernt war. Kaum war die Luxuskarosse weitergefahren, hielt ein Polizeiwagen neben dem Barkeeper und der Polizist fragte, was der Mann aus dem Rolls-Royce gewollt habe. Ich erzähle dem Ungarn vom Schicksal Rudolph Moshammers. Dann trinken wir, er auf Moshammers Wohl, ich gegen mein Misstrauen. Es regnet nämlich immer noch nicht. Das heißt: Irgendetwas stimmt nicht mit Wales. Das Reistagebuch meiner Mutter, zweiter Tag: »Auf dem Weg nach Rhossili Bay. Wir frieren. Die Kinder streiten.« Ein Grund für unsere Auseinandersetzungen war, dass meine drei Jahre ältere Schwester, damals 17, ständig »Ob-La-Di, Ob-La-Da« sang. Oder, gemeinsam mit meiner jüngeren Schwester, damals neun, »Michelle Ma Belle«. Ich konnte nicht davonlaufen, weil es draußen regnete. Also schrie ich dagegen an. Gegen die Beatles, den Regen, den Urlaub. Ich wollte nach Hause. 15 Jahre später stehe ich am Vormittag des zweiten Tages meines zweiten Wales-Urlaubs in weißer Leinenhose und hellem Sommerhemd auf den Zinnen von Cardiff Castle und blinzle gegen die Sonne hinüber ins Millennium Stadium. Ich wäre ja lieber ins Stadion gegangen, man kann nämlich durch den unterirdischen Spielertunnel laufen, aber Yvonne entschied sich für die Burg. Dabei ist das Stadion eines der größten weltweit, 73500 Zuschauer passen hinein. Vor allem kann man das Dach vollautomatisch schließen! Sehr vernünftig in einem Land wie Wales. John, der Mann, der uns durch die Burg führt, bedauert ein wenig, dass das Wetter gut ist. Im Nebel, sagt er, würde sie viel unheimlicher wirken und ob wir noch ein paar Tage da seien, weil: Es würde sich wirklich lohnen, auf ein bisschen Regen zu warten. Im Andenkenladen stehen eine Menge Regenschirme mit allerhand aufgedruckten roten Drachen, dem Wappentier des Landes. Ich nehme einen schwarzen Schirm, lange kann es nicht mehr dauern, bis ich ihn brauche. Während der anschließenden Autofahrt hören wir im Radio neun Lieder, in denen die Sonne besungen wird. Es gibt nicht viel Gelegenheit in diesem Land, solche Songs zu spielen. Als wir über die steilen Klippen bei Rhossili Bay im Südosten des Landes wandern, macht sich Yvonne über meinen Regenumhang und den neuen Regenschirm lustig, bei 25 Grad, blauem Himmel und Sonne. Ich würde meine Kindheitserlebnisse dramatisieren, sagt sie. »Du warst hier noch nie«, antworte ich. Tatsächlich kann ich mich aber nicht an die atemberaubende Schönheit von Rhossili Bay erinnern: Lange Grashalme stehen zwischen Steinen auf hohen Klippen, unten am Wasser weicher Sandstrand. Wir klettern einen steilen Weg hinunter zum Meer. Vor uns liegt jetzt die Felsformation, die bei Nebel angeblich ein wenig aussieht wie das Ungeheuer von Loch Ness. Oder wie ein Drache, deshalb nannten die Wikinger das Riff Worm’s Head – Worm wie Lindwurm oder Drache. Wir können das schlecht nachvollziehen, wir haben ja keinen Nebel und sehen nur ein paar Felsen, die in der Sonne glänzen und aussehen wie Felsen, die in der Sonne glänzen. Wales bei Sonne wirkt seltsam: Das Land ist auf gutes Wetter einfach nicht vorbereitet. Das Reisetagebuch meiner Mutter, dritter Tag: »Helmut ist krank. Es regnet immer noch. Aufbruch Richtung Südengland und Sonne.« Es lohnte sich: In den Tagen darauf hatten wir tolles Wetter und gingen zum Baden. Wenn wir Kinder uns trotzdem stritten, drohte meine Mutter: »Wenn ihr nicht brav seid, fahren wir zurück nach Wales!« An unserem letzten Tag durchkreuzen Yvonne und ich den Südosten von Wales noch einmal und schauen ein paar alte Schlösser und Burgen an. Es ist warm und sonnig. Noch immer hat es nicht geregnet. Der Linksverkehr macht keinerlei Probleme mehr. Yvonne kreischt bei jedem wilden Pferd, das neben der Straße grast, und versucht tatsächlich, ein Fohlen zu umarmen. Natürlich läuft es davon. Im Radio säuselt John Lennon und ich ertappe mich dabei, wie ich mitsumme: »Here comes the sun, here comes the sun. And I say it’s alright.« Unsere letzte Burg, Manorbier Castle, liegt direkt am Meer in einer Bucht. Ein fast zwei Meter großes, ausnehmend hübsches Burgfräulein führt durch die Gemäuer und spricht komisches, keltisch klingendes Englisch. Von irgendwo hallen mittelalterliche Gesänge durch die halb verfallene Ruine. Über einen Pfad gehen wir direkt zum Strand und setzen uns ans Meer. Der Himmel hat zugezogen. Dann fallen die ersten Tropfen. Endlich. Ich spanne meinen schwarzen Regenschirm auf und der walisische rote Drache schützt uns vor der Nässe. Unter dem Drachen steht »Cofion o Gymru« – »Grüße aus Wales«. Vielleicht gehen wir noch einmal in die Burg zurück. Autor: Bastian Obermayer Dieser Text ist erschienen in der aktuellen Ausgabe des Süddeutsche Zeitung Magazin, die ein Reiseheft ist und sich der Liebe auf den zweiten Blick widmet: "Was machen wir bloß mit all den Urlaubszielen, die uns in schlechter Erinnerung geblieben sind? Ganz einfach: Noch mal hinfahren."

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