- • Startseite
- • SZ-Magazin
-
•
Eine Liebe auf dem Land
Das Märchen geht so: Sie sind ein junges Liebespaar und leben in Metamora, einer kleinen Stadt in Illinois, im Mittleren Westen Amerikas. Er macht seinen Schulabschluss, geht zu den US-Marines, wird in den Irak abkommandiert. Als er zurückkehrt, verloben sie sich. Er macht ihr einen Heiratsantrag, bevor er das zweite Mal in den Irak zieht. Sie ist 18; er 21. Sie wartet sehnsüchtig darauf, dass er nach Hause kommt. Seine Dienstzeit endet vorzeitig. In der Nähe seines Truppenfahrzeugs hat sich ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. Der junge Soldat erleidet fürchterliche Verletzungen. Am nächsten Tag liegt er im Brooke Army Medical Center in San Antonio in Texas. Sie verlässt zum ersten Mal im Leben ihre Heimatstadt und eilt mit seiner Mutter an sein Krankenbett. Seine körperlichen Schäden sind enorm.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Er muss mehrere Operationen über sich ergehen lassen. Sie weicht nicht von seiner Seite, eineinhalb Jahre lang, bis sie nach Hause können. Ihre Heimkehr gleicht einem Triumphzug. Er ist ein Held, sie seine Heldin. Ihre Beziehung scheint unerschütterlich, sie beflügelt die Menschen, sie gibt ihnen Mut. Die beiden heiraten. Sie ist 21, er 24. Das Datum ihrer Hochzeit, der 7. Oktober 2006, wird in Illinois zu einem Feiertag erklärt, zum »Renee & Tyler Ziegel Day«.
Doch das Glück dauert nicht lange. Im Januar 2008 lassen die beiden sich scheiden. Die Menschen reagieren geschockt, ungläubig, gekränkt. Als wäre ihnen ein Happy End versprochen worden, um das man sie nun betrogen hat.
Metamora liegt in Illinois, zwei Autostunden von Chicago entfernt, die Art von Kleinstadt, aus der man nicht wegzieht. Tyler, inzwischen 25, steht in der Küche seines Hauses, hier wohnte er gemeinsam mit Renee, bis sie auszog. Die Ehe hielt nur ein gutes Jahr. Sie sind trotzdem Freunde geblieben. Im Januar – da waren die Scheidungsunterlagen gerade erst unterschrieben – kam sie sogar zu seiner Superbowl-Party.
Sie halten Kontakt, auch wenn Tyler glaubt, dass sie jetzt in einer neuen Beziehung mit »’nem anderen Kerl« lebt. Es stehen immer noch viele gerahmte Fotos aus der Zeit vor dem Sprengstoffattentat herum, auf denen die beiden lachen und sich zärtlich ansehen. Am Kühlschrank hängen Schnappschüsse von Freunden und von Tyler.
Ein Bild sticht besonders hervor: Tyler, wie er sich allein in der Wüste ausruht, ein hübsches Gesicht, der Körper schlank und durchtrainiert, das blonde Haar kurz geschoren, er liegt im Sand, die Hände im Nacken verschränkt, lächelt in die Kamera. Tyler steht vor dem Bild und blickt auf sein früheres Gesicht. »Das hat Renee aufgestellt«, sagt er. Das Gesicht auf dem Foto gibt es nicht mehr.
Heute ist Tyler auf einem Auge blind, seine Ohren sind verbrannt. Ein Teil seines Schädels wurde in das Fettgewebe seines Oberkörpers implantiert. Dort, wo der Knochen sein Gehirn schützte, befindet sich eine Kunststoffplatte. In seinem Kopf stecken Schrapnellstücke, über seiner Augenbraue klafft ein Loch im Schädel. Sein linker Arm ist ein Stumpf, der unterhalb des Ellbogens amputiert wurde.
Die Finger seiner rechten Hand wurden abgerissen – nur zwei sind ihm geblieben –, eine seiner großen Zehen wurde ihm als Daumen verpflanzt. Tyler neigt den Kopf nach links und schüttelt sich eine Träne aus dem Auge. »Mir fehlte der Tränenkanal, der die Flüssigkeit ablaufen lässt, also haben sie mir einen aus Glas ein-gesetzt«, erzählt er. »Aber mit dem bin ich nicht zurechtgekommen, da hab ich ihn wieder rausgezogen.«
Wenn ihm wie jetzt in der Kälte die Augen tränen, muss er den Kopf neigen, um die salzige Flüssigkeit ablaufen zu lassen. Seine entspannte Haltung steht in krassem Gegensatz zu seinem Äußeren. Er lacht. Fast vergisst man, wie schwer dieser Mann verletzt, wie stark er behindert ist. Es müssen immer noch Verbände gewechselt werden, das macht jetzt seine Mutter Becky.
Sie würde ihm auch gern bei der Hausarbeit helfen, aber Tyler möchte das nicht. Einmal pro Woche bringt er seine Schmutzwäsche zu ihr, das ist alles. Die Leute im Ort sagen: »Ty ist der Gleiche geblieben, er sieht nur anders aus.« Tyler besitzt 24 Morgen Land, darauf will er ein Haus bauen. Es soll im Wald stehen und wie eine Blockhütte aussehen. Den Grundriss hat er schon.
Das Land hat Tyler vor der Hochzeit gekauft – gemeinsam mit Renee wollte er sich dort ein Zuhause aufbauen. Als er das erste Mal in den Irak zog, hatte der Krieg noch gar nicht begonnen. Tyler wurde in biologisch-chemischer Kriegsführung ausgebildet. Renee ging damals noch zur Schule. Bei seinem Abschied weinte sie, danach hatten sie Briefkontakt, einmal in der Woche durften sie fünf Minuten lang telefonieren, aber Tyler schenkte seine Minuten her. Er hatte keine Lust auf die Anrufe.
»Die Reizüberflutung war zu hoch. Mir ist dann immer zu viel durch den Kopf gegangen.« Im Sommer 2003 kam er nach Hause, glücklich und unversehrt. Drei Wochen später starb Renees Vater bei einem Unfall. Renee war am Boden zerstört. Sie suchte Halt bei Tyler, er wurde noch wichtiger für sie, die beiden verlobten sich.
Dann musste Tyler wieder in den Irak ziehen. »Als er das zweite Mal aufbrach«, sagt seine Mutter Becky, »war da diese innere Stimme, die mir sagte: Er wird nie mehr der sein, der er einmal war. Es war so ein Bauchgefühl. Ich wusste es einfach.« Wie schlimm es wirklich war, erfuhr sie erst, als sie ihn das erste Mal an Heiligabend im Krankenhaus in Texas liegen sah, zusammen mit Renee. Sie glaubt nicht, dass Renee Tyler wegen seiner Behinderungen verlassen hat.
»Ich werde Renee immer lieben, egal, was alle anderen sagen. Ich werde sie immer lieben, weil sie da war, als er sie am meisten brauchte. Als er spüren musste, dass es egal war, wie er jetzt aussieht.«
Weiterlesen auf sz-magazin.de:Jener Teil der Bevölkerung, der daran glaubt, der Irakkrieg stelle ein ehrenwertes Unterfangen dar, erkor Tyler Ziegel zum Helden.)
Text: max-scharnigg - Foto: Nina Berman