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Die Welt wird weiblicher
Am Anfang war es nur eine Abweichung vom statistischen Standard: Ein paar mehr Mädchen kamen zur Welt, ein paar weniger Jungen. Frauen bekamen häufiger Brustkrebs, Männer hatten weniger Spermien. Wissenschaftler aus der ganzen Welt analysierten die Daten, die sich in manchen Industriestaaten bis in die Fünfzigerjahre zurückverfolgen lassen. Sie verglichen die Statistiken von Europäern, US-Amerikanern, Japanern. Sie stutzten. Sie schlugen Alarm. Die EU gab ihnen Geld. Aktuelle Projekte erhalten eine Million Euro pro Jahr – zu wenig, sagen die Forscher: Sie vermessen die Geschlechtsteile männlicher Babys und die Hoden erlegter Eisbären, bewerten die Zahl neugeborener Mädchen, bitten Tausende Rekruten zur Masturbation, zählen Spermien, zählen Fische, zählen die Embryos lebend gebärender Schnecken. Sie sagen: Wenn sich nicht bald etwas ändert, sind die künftigen Generationen in Gefahr. Sie sagen nicht: Die Deutschen, die Dänen, die New Yorker und die Tokioer könnten aussterben, weil das nicht wissenschaftlich klingt. Aber die Ergebnisse ihrer Forschungen sprechen für sich: Die Welt wird weiblicher. Als Ursache für die schwindende Männlichkeit vermuten viele Wissenschaftler winzige Mengen Chemikalien, die im Körper von Menschen und Tieren entweder wie weibliche Sexualhormone wirken oder die Wirkung männlicher Hormone blockieren. Es sind Chemikalien, die wir anfassen, einatmen, essen. Sie können in Pestiziden enthalten sein, die als unsichtbarer Schleier über Äckern und Wiesen liegen. In der Wandfarbe, mit der Maler Zimmer renovieren. In T-Shirts und Hosen. Im Deo und im Aftershave. In der Plastikfolie, die den abgepackten Käse umgibt. Die bekanntesten Stoffe heißen PCB, Dioxin, Bisphenol A, Phthalate, Paraben, Alkylphenol. Die EU finanziert seit den Neunzigerjahren verstärkt Forschungsprojekte, in denen Hunderte Wissenschaftler die hormonelle Wirkung von sogenannten Umweltchemikalien untersuchen und in Tausenden Artikeln publizieren – die meisten unbeachtet von der Öffentlichkeit. Eine der wichtigsten Adressen, wo die Auswirkungen solcher Stoffe auf den Menschen erforscht werden, liegt am südöstlichen Ende der Großen Seen, in der 200 000-Einwohner-Stadt Rochester, Bundesstaat New York. In einem flachen Backsteinbau mit vorgesetzten weißen Säulen befindet sich das Büro von Shanna Swan, Kurzhaarschnitt, »indiskutables Alter« und Expertin für endokrine Disruptoren – Hormonstörer. Hört man Shanna Swan von ihrer Arbeit reden, möchte man glauben, die Menschheit sei dem Untergang geweiht. Ist sie natürlich nicht, sagt Swan. Aber sie sagt auch: »Die Situation ist extrem ernst.« Damit meint sie vor allem die Sexualorgane männlicher Babys. Auch wenn ein Kind genetisch zum Mann bestimmt ist, hat es nicht von Beginn an Penis und Hoden. Die entwickeln sich erst ab der sechsten Schwangerschaftswoche. Bis dahin könnte der Fötus theoretisch sowohl Eierstöcke als auch Hoden ausbilden. Wenn in diesem entscheidenden Zeitraum etwas die Wirkung der männlichen Hormone schwächt oder blockiert, kommt ein verweiblichtes Kind zur Welt. Shanna Swan sagt: ein nicht vollständig vermännlichtes Kind. Und davon gibt es in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr. Verweiblichte Jungen können zum Beispiel einen im Vergleich kürzeren Penis haben und Hoden nicht im Hodensack, sondern im Unterleib. Vor einigen Jahren veröffentlichte Shanna Swan eine Studie, die ihre Kollegen noch heute als »bahnbrechend« bezeichnen: Sie vermaß bei männlichen Babys den anogenitalen Abstand, das Stück zwischen After und Geschlechtsteil. War es kürzer als bei den meisten anderen Jungen gleichen Alters, war das ein Zeichen für Verweiblichung. Untersuchte Mütter, deren Blut während der Schwangerschaft in höherer Konzentration als üblich mit Chemikalien verseucht war, hatten deutlich öfter Söhne mit verkürztem anogenitalem Abstand, kürzerem Penis und Hodenhochstand als Mütter mit weniger belastetem Blut. Das Problem: Forscher vermuten, dass Männer mit diesen Symptomen im Erwachsenenalter eine deutlich schlechtere Spermienqualität haben können. So schlecht, dass es mit der Zeugung länger dauert oder gar nicht klappt. Einer der weltweit führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Spermienforschung ist Niels Skakkebaek. Er hat einen erheblichen Rückgang der Samenqualität seit 1940 nachgewiesen. Dabei geht es für die Wissenschaftler nicht nur um die Menge an Spermien pro Milliliter und pro Ejakulat. Forscher beurteilen auch die Richtung, in die die Spermien schwimmen. Planschen die winzigen Kaulquappen auf der Stelle, schwimmen sie im Kreis oder steuern sie geradeaus aufs Ziel zu? Und wie sehen sie aus? Großer Kopf, kleiner Kopf, Loch im Kopf? Skakkebaek sagt: »Weniger als zehn Prozent der Spermien eines durchschnittlichen Dänen sind normal.« Die Spermienqualität der Dänen sei die »mieseste« in ganz Europa. Dicht gefolgt von den Deutschen und Norwegern. Warum es ausgerechnet in diesen Ländern an Spermien krankt, das ist bisher noch ein Rätsel. Genauso, warum die Finnen und Esten in Europa am besten wegkommen. Lies weiter bei den Kollegen vom SZ-Magazin: Wieso der Kongo, Kenia und Nigeria den Eisbären vergiften.