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Die amerikanische Schriftstellerin Donna Leon erinnert sich an ihre verstorbene Mutter.
Sie war eine Frau, der eine Zigarette und ein Drink über alles gingen. Ja, ich weiß, dass dies kaum der passende Einstieg ist für einen Text, der wahrscheinlich in ein Loblied auf meine Mutter münden wird. Doch es ist nun einmal das Erste, was uns in den Sinn kommt, wenn wir, die wir sie geliebt haben, von ihr sprechen oder an sie denken. Sie hat mit sechzehn Jahren angefangen zu rauchen, ein Päckchen pro Tag, und erst wenige Jahre vor ihrem Tod damit aufgehört, dann allerdings von einem Tag auf den anderen, als ob sie plötzlich vergessen hätte, dass es überhaupt Zigaretten gab.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Was den Drink betrifft, so gilt es zu berücksichtigen, dass sie ein Kind ihrer Zeit war (Jahrgang 1916) und folglich nichts am Hut hatte mit Wein, Prosecco oder Bellinis. Sie stand auf handfeste Drinks: Gin Tonic, Daiquiri oder Martini (man gebe einen tüchtigen Schuss Gin in einen Shaker voll Eis, füge ein Stück Zitronenschale hinzu, schüttle auf Teufel komm raus und flüstere vor dem Abseihen leise »Wermut«). Sie nahm regel-mäßig einen Cocktail vor dem Abendessen und ließ erst davon ab, als sie auch mit dem Rauchen aufhörte.
Meine Mutter war eine Farmerstochter, das mittlere der neun Kinder von Joseph A. Noll, geboren in Nürnberg und mit achtzehn nach New Jersey ausgewandert (legal, wie ich hinzufügen möchte, damit eventuelle amerikanische Leser nicht nervös werden), und seiner Frau Jennie Mullins, geboren kurz nachdem ihre Eltern (ebenfalls legal) aus Irland emigriert waren. Sie gaben meiner Mutter den Namen Mildred, den sie nie leiden mochte; zu der Zeit, als ich auf der Bildfläche erschien, hatte eine meiner vielen Cousinen sie längst umgetauft zu Tante Moo, und Moo wurde und blieb sie für die ganze Familie, bis auf mich und meinen Bruder, die wir sie »Ma« riefen.
Auf dem elterlichen Milchviehbetrieb lernte meine Mutter all das, wovon Leute, die dreißig Meilen von New York City entfernt leben, heutzutage keine Ahnung mehr haben: Kühe melken, zupacken, wenn frisch geköpfte Hühner durch die Gegend rennen (das tun sie wirklich, ich habe es als Kind mit eigenen Augen gesehen und fand es toll). Und jeden Monat fuhr sie vier Tage nach Zahltag mit meinem Großvater in die Stadt, um die irischen Arbeiter einzusammeln, die sich an jedem Zahltag in die Arme des Alkohols und Gott allein weiß wohin sonst noch flüchteten, um vier Tage später wieder aufzutauchen: pleite, noch nicht ganz nüchtern, zerknirscht und sehr wackelig auf den Beinen.
Schon komisch, wie das Gedächtnis funktioniert. Ich meine: Behalten wir etwas in Erinnerung, weil wir dabei waren und es miterlebt haben oder weil man uns so oft davon erzählt hat, dass es irgendwann einfach wahr sein musste? Wir hatten einmal einen Hund, einen Springerspaniel; er hieß Grumpy, denn er war störrisch wie ein Maultier und dumm dazu, und er ertrug es nicht, wenn man ihn allein im Haus einsperrte. Glaubt man der Familienlegende, dann hat er sogar mal die unterste Scheibe der verglasten Terrassentür zertrümmert, um sich zu befreien, und denselben Fluchtweg gleich noch ein zweites Mal benutzt, indem er ein Bein des Stuhls durchnagte, mit dem das Loch in der Scheibe verbarrikadiert war. Das Foto von meiner Mutter mit Grumpy im Arm ist leider irgendwann bei einem meiner vielen Umzüge verloren gegangen.
Wenn meine Mutter in einer Hand meistens eine Zigarette hielt, so hatte sie nicht selten den Telefonhörer in der anderen. Als die Jahre ins Land gingen, ihre Geschwister sich verheirateten und von zu Hause fortzogen, wurde sie mehr und mehr zur zentralen Infobörse der Familie. Sie wusste als Erste Bescheid, wenn Verns Mann wieder einmal seine Stelle verloren hatte oder Howard im Krankenhaus lag. Viel später erst kam ich dahinter, dass sie auch die Familiengeheimnisse hütete.
Ihr konnte man jede Schmach beichten: den gewalttätigen Ehemann, die Mietrückstände, die Alkoholprobleme. Ihre Schwestern kamen oft zu Besuch, und dann wurden am Küchentisch schier endlos Vertraulichkeiten ausgetauscht, während man mich mit den Vettern und Cousinen zum Spielen nach draußen schickte. Ich erfuhr nie, worum es bei diesen langen, manchmal tränenreichen Gesprächen ging, und sie hat mich wohl nur wie durch Osmose gelehrt, dass man vertrauliche Mitteilungen niemals ausplaudern darf. Nicht »nie sollte«, sondern »niemals dürfe«.
Dann waren da die Gärten, die sie überall, wo wir wohnten, angelegt hat. Für die anfängliche Schwerarbeit wie Ausheben und Umgraben wurde mein Vater eingespannt, danach aber war es einzig und allein ihr Reich. Blumen: Sie wollte von jedem Fenster eines jeden Hauses, das wir bezogen, auf ein Meer von Blumen blicken und hat das auch geschafft. Ich sehe sie vor mir, wie sie, bis zu den Ellbogen mit Erde verkrustet, am Boden kauert, Unkraut jätet oder das Pflanzloch für einen Setzling aushebt, rastlos und unermüdlich an der Gestaltung eines Gartens werkelnd, dessen Modell sie genau im Kopf hatte. Die Vasen im Haus waren vom Frühling bis zum Herbst gefüllt, entweder mit ihren eigenen Blumen oder denen, die sie von ihren Gartenfreunden geschenkt bekam.
Die ganze Geschichte lesen - im Süddeutsche Zeitung Magazin