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Der kranke Koloss
Von Peter Praschl Fotos: Thomas Meyer Auf der Matratze im Ausnüchterungsraum schnarcht einer, der es nach Hause nicht mehr geschafft hätte. Zwei Engländer, auch schon gut betankt, dröhnen herein; der eine kühlt seine Schreibhand in einer mit Eiswürfeln gefüllten Plastiktüte, der andere füllt das Aufnahmeformular aus – wie heißt du eigentlich mit Nachnamen? In der Chest Pain Unit hofft ein türkischer Mann, dass sein zweites EKG um 4 Uhr 20 genauso beruhigend ausfällt wie das erste. Und in der 17 wartet immer noch Frau Maschke. Vor anderthalb Stunden ist sie von zwei Rettungsfahrern auf einem Rollstuhl hereingeschoben worden, Jahrgang 1918, verwirrt im Treppenhaus aufgefunden. Jetzt sitzt sie da in ihrem akkurat gebügelten Nachthemd unter einem knitterfreien Trenchcoat und weiß weder, welcher Wochentag, noch, was ihr widerfahren ist. Am Tag zuvor, findet sich im Computer, ist sie aus einem anderen Berliner Krankenhaus entlassen worden; nun telefoniert jemand dem Arztbrief hinterher, was sich schwierig gestaltet, weil die Nachtschwester am anderen Ende der Leitung nur löchrig Deutsch versteht.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Es ist eine recht ruhige Nacht in der Rettungsstelle der Charité in Berlin-Mitte. Keine blutigen Unfälle, nichts, was nach Emergency Room aussieht. Bloß die üblichen Schmerzen und Gebrechen, die man nicht bis zum nächsten Morgen ertragen kann, lauter Routinefälle: Eine Frau fühlt sich elend, vielleicht ist es bloß Fieber, vielleicht aber auch eine Gehirnhautentzündung; ein Mann hat unklare Brustschmerzen und vor allem Angst; ein anderer ist gestürzt und hat sich nähen lassen. Jeder wird freundlich in Empfang genommen, angehört, zum Röntgen geschickt, auf die Ergebnisse der Blutprobe vertröstet, geduldige und ein wenig müde Medizinerroutine unter einem Licht, in dem jeder viel zu fahl aussieht. Irgendwann gegen halb vier Zeit für eine Viertelstunde Kaffeepause in der Küche am Flur, bis aus der 17 Frau Maschke »Schwester, Schwester« ruft, es ist nichts, nur das Warten wird ihr zu lang. Und während man dem Kommen und Gehen zusieht, beginnt man zu ahnen, dass dieses Krankenhaus so etwas ist wie ein rettendes Ufer, an das die Stadt Berlin kleine Boote spült, die auf der offenen See des Lebens ihren Kurs verloren haben. Über der Rettungsstelle reckt sich zwanzig Stockwerke der Bettenbau der Charité hoch, ein mächtiger Turm, in dem auch diese Nacht viel gelitten wird. Als es die Mauer noch gab, konnte man ihn auch im Westen sehen – wie aus manchen seiner Krankenzimmer das unerreichbare Westberlin. Nun, zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, müsste der Bettenbau selbst ins Krankenhaus, damit ein paar seiner Verschleißerscheinungen behoben werden. Vor einigen Monaten drang durch ein Leck im Dach so viel Wasser, dass es in einem Elektronikraum zu einer Explosion kam. Danach fiel in einigen Stockwerken die Elektrizität aus, und obwohl das Notstromaggregat klaglos einsprang, war das wieder einmal einer der Momente, in denen der Charité-Direktor Karl Max Einhäupl nicht weiß, ob Verzweiflung oder Wut das angemessenere Gefühl ist. Erst neulich, erzählt er, sei er im zur Charité gehörenden (und in Westberlin gelegenen) Virchow-Klinikum an ein paar Eimern vorbeigekommen, in denen Regenwasser aufgefangen wird. Und weil er, wie jeder Arzt, weiß, dass Krankheiten umso gefährlicher werden, je länger man notwendige Operationen aufschiebt, hat Einhäupl Mitte Oktober nachdrücklicher als sonst Alarm geschlagen: Die Charité müsse endlich Investitionssicherheit für die dringend benötigten Sanierungsarbeiten und neue Medizintechnik bekommen; andernfalls sollte man besser über ihre Schließung nachdenken. Dass es so weit nicht kommen wird, weiß auch der 62-Jährige. Aber er praktiziert in einer Stadt, die sich so sehr an ihren schlechten Allgemeinzustand gewöhnt hat, dass man sie manchmal mit dem Tod erschrecken muss, damit sie nicht ewig nur weitermacht. Hier kannst du weiterlesen.