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Das Prinzip Warten

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Um das Warten auf das Glück oder den Weltuntergang, auf einen Mann namens Godot oder den Frieden in Nahost geht es an dieser Stelle nicht. Es geht überhaupt nicht um das Warten im großen emphatischen Sinn, zum Nachdenken über solche Dinge war es zuletzt leider zu heiß. Stattdessen soll von den kleinen, nervigen Wartezeiten des täglichen Lebens die Rede sein: der Zeit, die man in Warteschlangen verbringt, vor roten Ampeln verharrt, seinem Computer beim Arbeiten zuschaut oder bis zum Ende einer Sitzung überstehen muss. Diese Zeit war früher eine zähe, unbestimmte, undurchdringliche Masse. Sie konnte ganz schnell zu Ende sein oder sich noch ewig hinziehen, man stellte sich gottergeben an oder drehte Däumchen und in der Schlange, für die man sich gerade entschieden hatte, ging dann natürlich überhaupt nichts voran.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Reisende warten auf dem Bahnhof Köln-Deutz Damit wollte sich die Menschheit irgendwann nicht mehr abfinden und so begann sich das Warten zu verwandeln. Den Anfang machte wie so oft die Computerbranche mit der Erfindung des »Fortschrittsbalkens« – dieser allgegenwärtigen kleinen Grafik, die dem Warten einen Anfang und ein Ende gibt und dem Benutzer jederzeit anzeigt, wie viel Arbeit der Computer schon geleistet hat und wie viel er noch leisten muss. Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass solche Fortschrittsbalken auch lügen können, wird hier ein interner und eigentlich völlig undurchsichtiger Prozess transparent gemacht. Man kann sich auf ein festes, absehbares Ende einstellen, beruhigt einen Kaffee holen gehen oder lieber gleich die Abbrechen-Taste drücken. Die Firma IBM hielt acht Jahre lang ein Patent auf diesen Balken, ließ es aber zum größeren Nutzen der Menschheit im Jahr 2003 auslaufen. Schon länger kann man beobachten, dass der Erfolg des Fortschrittsbalkens auf andere Lebensbereiche übergreift – und dass wir kaum noch auf die Information verzichten wollen, wie lang eine Sache so dauern wird. In Ämtern ziehen wir Zahlenkärtchen und verfolgen auf einem Display über der Tür, wie weit die eigene Nummer noch entfernt ist; an U-Bahn-Haltestellen werden die Minuten bis zum nächsten Zug heruntergezählt; Musikplayer zeigen an, an welcher Stelle eines Songs wir uns befinden; und sogar Pappschilder neben endlosen Schlangen geduldiger Kunstfreunde messen die Zeit: »Ab hier noch eine Stunde bis zum Eingang der Ausstellung«. Die allerneueste und schon leicht perverse Entwicklung kommt nun vom Hamburger Gänsemarkt: Dort steht eine so genannte »Restrot-Ampel«, die einen Countdown bis zur nächsten Grünphase vollführt. Ihre Wirkung wurde wissenschaftlich untersucht, der Effekt auf das menschliche Nervensystem war deutlich: Zwanzig Prozent der Fußgänger, die früher bei Rot über die Straße gegangen wären, brachten nun die Ruhe auf, tatsächlich auf das grüne Männchen zu warten. Inzwischen sind es Situationen ohne Restzeitanzeige, die uns mehr und mehr nervös machen. Wie wäre es mit einem kleinen, unauffälligen Fortschrittsbalken über unseren Opernbühnen? Anders lässt sich Wagners Ring ja wirklich kaum noch ertragen. Auch Konferenzen am Arbeitsplatz, Politikerreden, große Reformprojekte und die weibliche Sexualität könnten viel von ihrem Schrecken verlieren, wenn sich eine hilfreiche kleine Eieruhr einblenden ließe, die einfach mal den Stand der Dinge klarstellt. Der ewig tickende Puls des modernen Lebens verlangt, dass noch die letzten Reste amorpher Zeit in unserem Leben digitalisiert, in ihre Bestandteile zerlegt und mit einem Anfang und Ende versehen werden. Aber wo führt das hin? Werden wir erst dann Ruhe geben, wenn wir die ultimative Restzeitanzeige vor Augen haben – die verbleibenden Tage, Stunden und Minuten des eigenen Lebens? Selbst das muss es schon einmal gegeben haben, die Legenden von Sehern und Orakeln beweisen es – aber nur die Mutigsten haben es wirklich gewagt, diese Frage nach der Zukunft zu stellen. Bevor wir den Fortschrittsbalken unserer eigenen prekären Existenz betrachten, fügen wir uns doch lieber in die altertümliche Qual des zähen, unbestimmten, undurchschaubaren Wartens.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Von Tobias Kniebe aus dem aktuellen Süddeutsche Zeitung Magazin

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