- • Startseite
- • SZ-Magazin
-
•
Das Gespenst von Ipanema
Wenn es Nacht wird, und er ein Fenster auflässt, kann man ihn hören, sagen die Nachbarn. Manchmal singt er auch:
Tall and tan
and young and lovely
the girl from Ipanema
goes walking
and when she passes
each one she passes
goes »a-h-h!«
Das Haus, ein zehnstöckiger Apartmentkomplex aus den Achtzigerjahren, ist wie ein Eisblock zwischen die Geschäftszeilen von Rios Reichenviertel Leblon gerammt. In einem der Apartments wohnt der seltsame alte Mann mit schütterem Haar, Bundfaltenhose und einer ziemlich großen Brille. Er ist weltberühmt, jeder kennt seine Lieder und könnte sie vorpfeifen, aber ginge er jetzt auf die Straße, würde ihn kaum jemand erkennen. Es liegt daran, dass der Mann nie auf die Straße geht. Seit dreißig Jahren versteckt er sich in seinem Zimmer und lebt der Zeit und den Menschen entgegengesetzt: Steht auf, wenn alle schlafen gehen; legt sich hin, wenn alle aufstehen, wie ein Gespenst.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Dort oben wohnt João Gilberto: der brasilianische Sänger und Gitarrist, der der Welt vor über fünfzig Jahren die Musik des Bossa Nova geschenkt hat, zusammen mit dem Komponisten Tom Jobim und dem Lyriker Vinícius de Moraes (sie sind beide schon lange tot) – Lieder wie The Girl From Ipanema, Chega De Saudade, Bim Bom, die die Welt mit Leichtigkeit überzogen, so sehr, dass man überall einen Strand und hübsche Mädchen zu sehen glaubte, wo sie zu hören waren. Lieder, deren Kraft darin lag, dass sie leise gespielt und gesungen wurden, dass sie schwebten. João Gilberto hatte etwas Essenzielles in der Musik gefunden: wie Hemingway, als er alle Adjektive rausstrich; wie Mies van der Rohe, als er alles Überflüssige wegließ; wie Glenn Gould, als er sich entschied, zum Klavier zu summen.
Seit dreißig Jahren aber vergräbt sich João, der Zauberer. Er ist zum Rätsel geworden, zum Mythos von Rio. Gibt nie Interviews, selten Konzerte (die er dann oft kurz vorher absagt), die letzte Platte liegt zehn Jahre zurück.
Vielen Brasilianern geht er sogar ein bisschen auf die Nerven, obwohl er ihnen so viele schöne Momente bereitet hat wie sonst nur Pelé. Geht man in irgendeinen Plattenladen, zum Beispiel Modern Sound in Copacabana, und fragt ein bisschen rum, hört man die Menschen über ihn schimpfen:
»Verrückt. Verrückt, verrückt, verrückt! Ach, hör mir auf mit João, der spinnt doch! Soll lieber mal Musik machen.«
»Komischer alter Mann, mit irgendeinem wirklich großen Problem. Fall für die Anstalt, wenn du mich fragst.«
»Nicht ganz dicht. Kommt nicht drüber weg, dass seine Zeit vorbei ist.«
»Er telefoniert zu viel. Soll über 100 Handys besitzen, hab ich gehört. Kein Wunder, dass er dabei irre wird.«
Dieses Jahr, im Juni, wird er achtzig. Feiern wird er nicht, sagen alle, die João kennen. Weil er nie was feiert. Schaut lieber Fußball im Fernsehen, sein Lieblingsteam in Rio: Botafogo.
Hier kannst du den Text weiter lesen.
Text: jetzt-redaktion - Foto: dpa