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Wie man Einsamkeit im Studium überwinden kann

Foto: simonthon.com / photocase.de

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Für viele ist das Studium eine unvergessliche Zeit, in der man Freundschaften fürs Leben schließt. Richard hingegen fiel es schwer, Anschluss zu finden. Mit 19 begann er, BWL an der Freien Universität Berlin zu studieren – und mit ihm rund 200 andere Studierende. Das überforderte ihn. „Ich komme aus einem kleinen Ort in Brandenburg“, erzählt der 24-Jährige. „Dort kannte ich jede*n. Im Studium war diese Vertrautheit plötzlich weg. Ich fühlte mich alleine.“

Einsamkeit im Studium ist laut Evangelos Evangelou keine Seltenheit. Der 36-Jährige leitet die Psychotherapeutische und Psychosoziale Beratungsstelle des Münchner Studierendenwerks und betreut dort Studierende bei studienbezogenen, aber auch bei privaten Problemen. „Im Gegensatz zu den engeren Beziehungen an Schulen herrscht an Universitäten Anonymität“, erklärt er. „Besonders Studierende, die aus einem kleinen Ort oder aus dem Ausland kommen, fühlen sich zu Beginn häufig verloren.“

„An der Uni ist jeder Mensch nur eine Matrikelnummer“

Richard hatte vor allem Schwierigkeiten damit, dass er im Studium erstmals auf sich alleine gestellt war. „In der Schule konnte ich mich bei Problemen immer an jemanden wenden“, sagt er. „An der Uni hingegen wissen die meisten Dozent*innen nicht mal, wie die Studierenden heißen. Jeder Mensch ist dort nur eine Matrikelnummer.“ Auch sein Verhältnis zu Kommiliton*innen war oberflächlich. Denn Richards Erfahrung nach ging es im BWL-Studium hauptsächlich um Leistung und Konkurrenzkampf, das Persönliche spielte keine Rolle. „Für viele war das kein Problem – für mich schon“, sagt er.

Laut Evangelou gibt es zahlreiche Faktoren, die ein Gefühl von Einsamkeit bei Studierenden auslösen oder verstärken können. „Der Druck, in dieser neuen Lebensphase zurechtzukommen und erfolgreich zu sein, kann dazu führen, dass bei manchen die Pflege von sozialen Kontakten nicht die erste Priorität ist“, sagt er. Das Gleiche gilt für Nebenjobs, die viele brauchen, um ihr Studium zu finanzieren.“ Außerdem, vermutet Evangelou, spielen auch soziale Netzwerke eine Rolle. Das sei vor allem bei Studierenden der Fall, die für das Studium in eine neue Stadt gezogen sind. Denn dadurch, dass sie online im ständigen Kontakt zu Familie und Freund*innen aus der Heimat sind, fühlen sie sich zeitweise weniger einsam. Das wiederum könne dazu führen, dass sie die Motivation verlieren, im Wohnort Anschluss zu finden. 

So auch bei Jana*. Die Münchnerin zog mit 19 nach Passau, um dort BWL zu studieren. Da zwei ihrer Freundinnen bereits dorthin gezogen waren, machte sie sich zu Beginn keine Sorgen darum, in ihrem neuen Wohnort keine Freund*innen zu finden. „Ich verzichtete auf die Orientierungswoche im Studium, um mit meinen Münchner Freundinnen und deren Freundeskreis unterwegs zu sein“, erzählt die 21-Jährige. „Rückblickend war das keine gute Idee.“ Denn sie merkte schnell: Mit der Gruppe um ihre Freundinnen hatte sie nichts gemeinsam.

Da Jana mit fünf Studierenden zusammenwohnte, hoffte sie darauf, sich mit ihren Mitbewohner*innen anfreunden zu können. Doch auch in der WG fühlte Jana sich fehl am Platz. „Jede*r lebte für sich“, erzählt sie. „Unsere Gespräche gingen nicht über Small Talk hinaus. In meinem neuen Zuhause hatte ich mit niemandem Berührungspunkte. Das war kein schönes Gefühl.“ 

„Ich ging nicht in Vorlesungen, weil ich dort als einzige keine Freund*innen hatte“

Evangelou erlebt häufig, dass Studierende, die sich einsam fühlen, in einen Teufelskreis geraten. „Zu Beginn des Studiums bilden sich Grüppchen und es werden Freundschaften geschlossen“, sagt er. „Wer in der Situation keinen Anschluss findet, bekommt oft große Angst davor zu vereinsamen.“ Doch anstatt auf andere zuzugehen, ziehen sich viele zurück – unter anderem, weil sie sich für ihre Einsamkeit schämen. Das erschwere das Sozialleben zusätzlich.

Janas Situation verschlimmerte sich. Zuerst versuchte sie noch, in Vorlesungen auf ihre Kommiliton*innen zuzugehen. Doch sie stellte fest, dass sie – ähnlich wie Richard – auf persönlicher Ebene nicht zu den anderen BWL-Studierenden passte. Ihre Motivation, Anschluss zu finden, verschwand. „Teilweise ging ich nicht in Vorlesungen, weil ich die einzige war, die dort keine Freund*innen hatte“, erzählt sie. „Abends sagte ich oft Verabredungen ab, weil ich wusste, dass ich mich mit den Menschen dort sowieso nicht wohlfühlen würde.“

Mit der Zeit fuhr sie immer öfter nach München zu ihren Freund*innen und ihrer Familie. Teilweise verbrachte sie mehr als die Hälfte der Woche dort. Nach zwei Semestern brach sie das Studium schließlich ab. „Das war die richtige Entscheidung“, sagt Jana. „Ich fühlte mich weder im Studium noch in Passau wohl. Jetzt wohne ich in Berlin. Die Stadt und die Mentalität der Menschen passen viel besser zu mir. Außerdem fange ich wahrscheinlich eine Ausbildung an, weil ich glaube, dass die Anonymität im Studium nichts für mich ist.“

Auch Richard beschloss, das BWL-Studium abzubrechen. Stattdessen fing er an, Kommunikationswissenschaft zu studieren. „Bei meinem zweiten Studium ging es mir viel besser“, sagt er. „Ich habe an allen möglichen Ersti-Aktivitäten teilgenommen und darüber Menschen kennengelernt, mit denen ich heute – also vier Jahre später – immer noch eng befreundet bin. Deswegen rate ich jede*r, zu Beginn des Studiums zu so vielen Uni-Veranstaltungen wie möglich zu gehen.“

„Studierende sollten nicht zögern, sich professionelle Hilfe zu suchen“

Die meisten Studierenden erzählen in der Beratung ungern von ihrer Einsamkeit, sagt Evangelou. Denn für viele fühle sich die Situation an, als hätten sie versagt. Er rät ihnen, sich rechtzeitig Unterstützung zu holen. „Für Studierende gibt es an der Universität viele Angebote, über die sie Menschen kennenlernen können“, sagt er. „Zum Beispiel über Stammtische, Sport-Angebote oder Jobs im Studierendenwerk. Außerdem kann es helfen, zu Beginn des Studiums in eine WG oder in ein Wohnheim zu ziehen.“ Während der Corona-Pandemie kümmern sich viele Organisationen an den Unis, wie zum Beispiel die Fachschaften, auch um ein alternatives, virtuelles Programm oder Treffen in Kleingruppen an der frischen Luft. 

Laut Evangelou können sich Studierende in Extremfällen auch bei den Beratungsstellen der Universität oder des Studierendenwerks professionelle Unterstützung suchen. So können sie herausfinden, woher die Einsamkeit kommt und was sich individuell dagegen tun lässt. „Einsamkeit im Studium ist ein ernstzunehmendes Problem“, sagt Evangelou. „Auch psychische Probleme können eine Ursache dafür sein. Deswegen sollten Studierende nicht zögern, sich professionelle Hilfe zu suchen.“ 

*Da die Betroffene anonym bleiben möchte, wurde ihr Name von der Redaktion geändert.

Dieser Text wurde zum ersten Mal am 13.10.2019 veröffentlicht und am 05.11.2020 nochmal aktualisiert.  

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