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WG-Überbleibsel: Was Mitbewohner zurücklassen
In WGs teilt man nicht nur die Wohnung und den Putzdienst, sondern auch den Alltag. Im Gegensatz zu Familien oder Partnerschaften meist ohne die Illusion, dass eine höhere Macht einen zusammenhält und man –notfalls auch hier– zusammen alt wird.
Egal, ob Zweier-WG im 60er-Jahre-Wohnheim in München oder Zehner-WG in einem alten Leipziger Arbeiterhaus: Viele Mitbewohner lassen beim Ausziehen ein kleines „Andenken“ an sich zurück. Da steht es dann, oft noch jahrelang: ein Teil, das keiner mehr braucht, aber auch keiner wegschmeißen will – sei es aus Faulheit oder Nostalgie. Wir haben zehn Überbleibsel aus Wohngemeinschaften gesammelt.
Der Doppelkinn-Trainer In einer Altbauwohnung in Leipzigs Zentrum wohnt Maria (28, Programmiererin) seit sieben Monaten mit Clemens (26, Geschichtsstudent) und Georgie (20, VWL-Student) zusammen. Auf der Suche nach Batterien macht Clemens (26, Geschichtsstudent) eine Entdeckung! Zwischen einer blauen Glühbirne und der Anleitung für den Router findet er diesen länglichen Gegenstand. „Was ist DAS?!“ Maria lacht und erzählt eine Anekdote, wie sie die Drehbuchautoren kultiger WG-Sitcoms nicht schöner schreiben könnten: 2017, Maria wohnt mit ihren Unifreunden Ines und Alexandre (mittlerweile 29 und 30) in der WG. Nach stundenlangem Coden in der Küche rauchen sie gerne mal einen Joint und verbringen „legendäre“ Abende. An einem dieser Abende flimmern auf dem Teleshoppingsender figurformende Unterhemden, der Dönergrill für zuhause und der „Nicer Dicer“ über den Bildschirm. Parallel suchen die Mitbewohner auf dem Handy um die Wette nach weiteren Schnäppchen. „Ines hat den effektiven Doppelkinntrainer für einen sagenhafte Vorteilspreis von 8,99€ entdeckt“, imitiert Maria die Moderatoren von QVC und Co. Triumphierend bestellt sie. Seitdem schieben ihn sich die Drei wie einen schwarzen Peter hin- und her.
Erwin, das Skelett „Im Wohnheim kann man sich die Mitbewohner halt nicht aussuchen“, erklärt Regina (25, Journalistin). 2012 lässt ihre Vorgängerin Clara (27, Medizinstudentin) Erwin als Erinnerung an ein qualvolles Studium in ihrer Zweier-WG im Düsseldorfer Wohnheim zurück. Ihre Eltern schenken ihr das Skelett, als Clara überglücklich die Zusage für den Studienplatz erhält. Damals ist das Medizinstudium noch ihr großer Traum. Mit jeder Prüfungsphase wird Erwin für sie mehr und mehr zum Statisten einer Horrorshow. Deshalb bleibt das Skelett im winzigen Durchgang zwischen Küche und Bad zurück, als sie das Examen hinter sich hat, Düsseldorf verlässt und einen neuen Lebensabschnitt beginnt. Ihre Mitbewohnerin Laura (damals 23, Politikwissenschaftlerin) und ihre Nachfolgerin Regina (damals 19, Erstsemester Kulturwissenschaft) schätzen Erwin sehr: „Er hat uns treue Dienste geleistet: als Geschirrtuchhalter, Stolperfalle oder Model für unsere Klamotten auf Kleiderkreisel.“
Christliche Ikonographie, Teil I Während Buddha-Figuren die Vorgärten, Yogastudios und Badezimmer Deutschlands besiedeln, bleibt diese WG im beschaulichen Nymphenburg (München) der christlichen Tradition treu. Hier ist immer und überall Zeit für Besinnlichkeit. Daniel (27) und Hannes (30) haben nicht nur jahrelang gemeinsam Filmsets dekoriert, sondern auch zusammengewohnt. Dieses Kreuz hat Hannes, der wegen seines Jobs seit ein paar Monaten im Ausland lebt, für seinen ersten Dreh besorgt. Es hängt nun über der Toilette. Vermutlich, weil es der einzige Ort ist, an dem ein Kruzifix nicht konservativ wirkt. „Anfangs bin ich lieber in der Arbeit auf Toilette gegangen“, gesteht heimlich die neue Mitbewohnerinnen (25, Auszubildende im öffentlichen Dienst), „Irgendwie will man Jesus dann doch nicht überall dabeihaben!“
Christliche Ikonographie, Teil II Ein paar Autostunden entfernt, immer noch im katholischen Bayern, ziehen Johannes (27, Medienwissenschaftler) und seine beiden Mitbewohner aus ihrer Coburger WG aus. Wie immer bei WG-Auflösungen oder kompletten Wechseln der Besetzung herrscht eine Mischung aus Aufbruchsstimmung und kalten Füßen. Zum ersten August 2017 folgen Melanie, Elli und Jörn, die eine Azubi-WG gründen. Johannes hinterlässt beim Auszug ein paar Dinge im Flur, die er eigentlich „noch schnell zur Mülltonne“ bringen wollte. Zwei Tage später entsorgt Melanie sie und fischt dabei dieses Wackelbild aus dem Stapel. Von der Tür aus zeigt es Jesus als Baby, vom Fenster aus sieht man ihn als jungen Mann. Das Bild steht heute auf Melanies Nachttisch. Ihren Vormieter Johannes hat sie nur einmal persönlich getroffen. Sehr fromm kam er ihr nicht vor. Als Melanie Johannes wegen des Bildes eine SMS schreibt, freut er sich über seine neue Prominenz. Er erzählt, dass er es Jahre zuvor auf dem Flohmarkt in seiner Heimatstadt für einen Euro gekauft hat und bedankt sich –mit einem Zwinkersmiley– fürs Wegräumen. Obwohl die beiden sich kaum kennen, ist es das einzige Überbleibsel, das nicht nur in den Gemeinschaftsräumen die Bewohner überdauert, sondern sogar in einem der Schlafzimmer gelandet ist.
Der Zahnbürstenwald Tanja, Annabell und Loren wohnen in einer Dreier-WG in Frankfurt. Sie sind Anfang bis Mitte Zwanzig, studieren irgendwas mit Medien, irgendwas mit Menschen und irgendwas mit Geografie, wie sie geheimnisvoll mitteilen. Jede von ihnen hat 28 Zähne. Sie stehen damit wahrscheinlich stellvertretend für die meisten WG-Bewohner und Bewohnerinnen, die für jeden einzelnen ihrer Zähne eine eigene Zahnbürste benutzen könnten. Solche Zahnbürstensammlungen schlummern in vielen WGs. Sie erzählen von Bewohnern, die nur für ein paar Tage oder Wochen auf dem Sofa schlafen, von Freunden und Freundinnen, die übers Wochenende vorbeigekommen, und verflossenen Liebschaften. Annabell (24, „irgendwas mit Geografie“) behauptet sogar, dass sie regelmäßig Zahnbürsten wegwirft und ihr Ex-Freund in einer Zahnklink arbeiten würde. Dass die Zahnbürstensammlung ständig nachwächst, spricht jedenfalls für die Geselligkeit der Bewohnerinnen.
Die WG als Wiege der Wissenschaft „Wir hängen das so schnell nicht ab! Vielleicht kommt es ja mal ins Deutsche Museum“, sagt Hannah. Sie ist 25 Jahre alt und schreibt gerade ihre Masterarbeit in Anglistik. Seit sechs Jahren wohnt sie mit vier Jungs zusammen, die an der Technischen Hochschule in Köln studieren. Als ihrem ehemaligen Mitbewohner Benny (28, Maschinenbauer) das Bafög knapp wurde, hoffte er auf Ruhm, Ehre und Geldsegen in der Primzahlen-Forschung. „Er hat einen ganzen Nachmittag Primzahlen, Formeln und Striche auf dieses Zeichenblockblatt gekritzelt. Dann ist er – inspiriert von Luthers Thesenanschlag – zur Tür stolziert und hat sich dort verewigt.“ Obwohl Bennys Durchbruch mit den Primzahlen bis heute auf sich warten lässt, wohnt er wegen seines neuen Jobs seit sieben Monaten nicht mehr in seinem Neun-Quadratmeter-WG-Zimmer im Kölner Norden. Der Zettel an der Tür ist geblieben.
Thank you for the Music Nochmal eine WG in München: Hinterlässt man hier so gerne seine Sachen, damit die Nachmieter für die horrenden Preise mehr bekommen? Seit 2017 wohnen Ramona (26, Volontärin im Kulturbereich) und Christian (29, Grafikdesigner) in einer kleinen Altbauwohnung. Susi (24, Biologiestudentin) und Isabell (24, Kunstgeschichtsstudentin) sind schon ein Jahr länger da. In ihrer Küche gibt es eine sehr große und teilweise sehr alte CD-Sammlung. „Hier hat vorher ein Musikjournalist gewohnt!“ – klärt die WG-Älteste Susi aus dem Nebenzimmer auf. Seine Sammlung wurde nicht plötzlich entdeckt, sondern blieb einfach relativ unauffällig im Küchenregal zurück, als ihr Besitzer mit seiner Freundin zusammenzog. Bei Sonntagsfrühstücken, Geburtstagspartys oder Mitternachtssnacks, die länger als die gleichnamigen Spotify-Playlists dauern, kommt „Mos Musik Mix“ immer wieder zum Einsatz.
Die Namen der WG-Geister Während friedfertige Ex-Mitbewohner und Mitbewohnerinnen oft von „vergessenem“ Kram sprechen, streiten einige besonders Dreiste den Besitz einfach ab. Findige Mitbewohnerinnen wie Marie (29, BWL-Studentin) erkennen diesen Trick aber zumindest bei personalisierten Gegenständen. Hier eine persönliche Grußbotschaft von ihr, direkt aus der Fünfer-WG im Stuttgarter Kessel: „Liebe Laura, liebe Anne, liebe Félicie! Eure Mannschaftspullis, Brotzeitbrettchen und Frühstücksschüsseln warten auf euch!“ Leider weiß keine der Bewohnerinnen mehr, was eigentlich aus Anne und Laura geworden ist. Sie waren typische WG-Geister, die das Wochenende bei ihren Eltern oder ihrem Freund verbrachten und auf Zehenspitzen über den WG-Flur huschten. Félicie war Erasmusstusdentin aus Lyon, mit der Abholung wird’s in dem Fall wohl auch nichts werden.
Das blaue Klavier Das blaue Klavier stammt aus einer Vierer-WG am Düsseldorfer Bahnhof. Annalena (27, Urbanistikstudentin) und Nikolas (29, Cafébetreiber) leben hier seit zwei Jahren. Ihre beiden Mitbewohner sind gerade erst eingezogen. Das Klavier hingegen steht schon so lange im Flur, dass seine Geschichte nicht mehr überliefert ist. Ist es das Erbe einer ungeliebten Großtante, bei der man sonntags auf dem Klavier vorspielen musste? Man weiß es nicht. Trotz der verlorenen Geschichte ist es das schönste und vielleicht wertvollste Überbleibsel in dieser Sammlung! Seine Töne klingen verstimmt, aber es gehört, wie die Kinosessel im Hintergrund, so sehr zum Charme der WG, dass es auf keinen Fall verkauft wird!
Diebesgut Julius (28, Jurastudent), Svenja (24, Religionswissenschaftlerin) und Rike (24, Biowissenschaftlerin) haben die ersten Jahre ihres Studiums in einer WG in Jena gelebt. Julius war damals noch nicht im Examensstress und konnte seine Abende regelmäßig in einer bestimmten Kneipe verbringen. Wie viele Menschen hat er, vom Alkohol beflügelt, eine Kleinigkeit aus der Bar mitgehen lassen. Im Gegensatz zu den meisten Diebstählen dieser Art war das Objekt seiner Begierde aber nicht eine Flasche Hochprozentiges oder ein Glas. Stattdessen schmuggelte er vor circa sieben Jahren ein Bild aus gepressten Blüten unter seiner Jacke nach Hause. Das blumige Diebesgut hat er seiner WG überlassen, als er für das zweite Staatsexamen nach Leipzig zog. Ein halbes Jahr später wechselten auch Svenja und Rike die Stadt. Die BWL-Ersties (19, alle drei aus der Gegend), die jetzt drin wohnen, übernahmen die WG samt ihrer traditionsreichen Dekoration. Julius hatte übrigens noch andere Raubzüge unternommen. Dabei schleppte er beispielsweise eine Baustellenlampe an, die er ebenfalls seinen Mitbewohnerinnen „schenkte“. Er signierte sie beim Auszug mit den Worten: „Für die beste WG! Julius“
Bevor ihr jetzt den Wertstoffhof ansteuert, um eure WG-Hinterbleibsel zu entsorgen, fragt lieber nochmal nach der Geschichte der Zahnspangendosen, des blinkenden Handyanhängers oder des gestorbenen Tamagotchis! Vielleicht schlummert ja ein Stück WG-Geschichte in ihnen – die ihr uns unter info@jetzt.de gerne erzählen könnt.
Um keine entsetzten Anrufe von Julius, Claras oder Mos Mutter zu riskieren, haben wir ihre Vornamen der (Ex-) Mitbewohner und Mitbewohnerinnen geändert!