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Immer mehr Menschen studieren ohne Abi

Fotos: privat Bearbeitung: jetzt.de

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Die Kennlerntage in den ersten Uniwochen sind für viele der Horror. Spielchen wie „In einer Reihe aufstellen und nach Alter sortieren“ sind dabei ganz normal. Thomas stand beim Seminarkurs als Letzter in der Reihe. Und auch Sandro kennt die Standard-Frage der Kommilitonen: „Warum bist du schon so alt?“

Sandro und Thomas haben kein Abitur, sondern nach dem Realschulabschluss eine Berufsausbildung gemacht. Und nun sitzen sie trotzdem zwischen all den Menschen in der Vorlesung, die sich vor Kurzem noch unter einem pseudo-lustigen Abimotto selbst gefeiert haben. 60 000 Menschen studieren derzeit in Deutschland ohne Abitur oder Fachhochschulreife. Das zeigt die neue Statistik des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) in Gütersloh. Im Vergleich zu 2007 hat sich die Zahl der Studierenden ohne Abitur 2017 vervierfacht. „Seit 2009 ist es überall in Deutschland möglich, ohne Abi zu studieren. Früher war das nur in wenigen Bundesländern, wie beispielsweise Hamburg, der Fall“, sagt Sigrun Nickel vom CHE. Dabei gibt es zwei Wege, die auch ohne Abitur in den Hörsaal führen:

Thomas (27) qualifizierte sich mithilfe von Berufserfahrung und Eignungstest

Nach seinem Realschulabschluss hatte Thomas schon einen Masterplan: eine Berufsausbildung als Medienberater. „Am Anfang hatte ich richtig Bock auf den Job. Nach drei Jahren konnte ich mich mit dem Beruf aber nicht mehr identifizieren, sah keine Zukunftsperspektive und wurde unzufrieden. Dann hatte ich die Wahl, mich entweder neu als Quereinsteiger zu bewerben oder zu studieren“, sagt Thomas.

Da er schon drei Jahre Berufserfahrung hatte (die Dauer ist je Bundesland unterschiedlich), konnte er sich auf ein fachgebundenes Studium bewerben. Zuvor musste er jedoch bei einem mehrtägigen Eignungstest an der Hochschule in Konstanz beweisen, dass er auch wirklich „studierfähig“ ist. Seine Deutsch- und Mathekenntnisse und das Wissen aus dem Fachbereich reichten aus: Thomas studiert inzwischen im sechsten Semester „Online Medien Management“ an der Hochschule der Medien in Stuttgart.

Laut Sigrun Nickel geht es den meisten Studierenden ohne Abi wie Thomas: „In der Regel wollen sich viele Berufstätige in ihrem bereits erlernten Beruf weiterbilden oder spezialisieren.“ Für ein fachverwandtes Studium reichen dann Berufserfahrung und ein Eignungstest aus. So blieben Thomas etliche „Was-studiere-ich“-Selbsttests erspart. „Ich war nach der Ausbildung viel weiter als viele nach dem Abi. Ich wählte mein Studium nicht aus Orientierungslosigkeit, sondern weil wusste, auf welchen Bereich ich mich spezialisieren möchte“, sagt Thomas.

Sandro (24) schrieb sich nach dem Techniker an der Hochschule ein

„Die zweite Möglichkeit, ohne Abi zu studieren, ist eine Fortbildung. Ein Master, Fachwirt oder Techniker ersetzt die Fachhochschulreife. Dann kann man sogar etwas komplett Neues studieren“, sagt Nickel. Sandro begann mit einer Ausbildung zum Elektroniker in seinem Heimatort. Im Betrieb um die Ecke arbeitete er eineinhalb Jahre lang als Geselle. „Für mich war früh klar, dass ich noch studieren möchte. Ich wollte mich nicht nur technisch, sondern auch betriebswirtschaftlich aufstellen. An der dualen Hochschule ist es nun die perfekte Mischung von Arbeit und Studium“, sagt Sandro.

Anstatt die Fachhochschulreife nachzuholen, machte er zwei Jahre lang eine Weiterbildung zum Techniker und ersparte sich so den Eignungstest. Seit September studiert Sandro Wirtschaftsingenieurwesen – bei seinem alten Betrieb und an der Hochschule in Friedrichshafen. „Für mich hatte der Weg nur Vorteile: Ich habe eine Ausbildung und bereits Praxiserfahrung, was viele Betriebe ziemlich geil finden“, sagt Sandro.

So weit, so gut. Auf das Abi zu verzichten muss aber auch irgendwelche Nachteile haben – sonst würde sich der Großteil die lange Schulzeit mit anschließender Prüfung ja nicht antun. Oder?  „Die Erfahrung zeigt, dass die Ansprüche im Studium hoch sind. Da kann es natürlich schon sein, dass ohne Abitur mal Lücken entstehen und Ängste und Zweifel aufkommen“, so Sigrun Nickel.

Sandro und Thomas mussten sich erst wieder ans Lernen und an ein leeres Bankkonto gewöhnen. „Für mich war die Umstellung beim Techniker krass. Da musste ich zwei Jahre zurück in die Schule und es war schwierig wieder ins Lernen reinzukommen“, sagt Sandro. Für Thomas war die größte Herausforderung das Geld: „Ich musste mich von meiner Wohnung in München verabschieden und Reisen war plötzlich keine Option mehr. Ohne Nebenjob und BAföG geht jetzt nichts mehr.“

Das Einkommen ist laut Sigrun Nickel der Grund, weshalb vor allem Fernhochschulen einen höheren Anteil an Studierenden ohne Abi als staatliche Hochschulen und Universitäten aufweisen. „Meistens stehen die Studierenden schon mitten im Leben. Daher verkürzen viele nur die bisherige Stelle und machen parallel ein Fernstudium“, so Nickel. Laut Statistik studieren die meisten Studenten ohne Abi (1467) an der FernUniversität Hagen. Rund 1700 Erstsemester sind an privaten Hochschulen eingeschrieben. „Das liegt daran, dass private Hochschulen auf Einnahmen angewiesen sind und daher mehr mit dieser Möglichkeit werben“, sagt Nickel. Es sei jedoch dringend notwendig, an allen Schularten über diesen Weg zu informieren.

Sandro und Thomas erfuhren durch eigene Recherche und Freunde von der Möglichkeit. Ob sie es bereuen, nicht zuerst Abi gemacht zu haben? Nein, sagen beide. Und das Feiern können sie schließlich auch während des Studiums nachholen.

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