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Speed auf Rezept: In den USA wird Adderall als Droge missbraucht
In den USA stehen an vielen Colleges gerade die Zwischenprüfungen an. Ryan* schreibt diese Woche gleich drei davon. Der 21-jährige Englisch-Student muss viel lernen, er hängt ein bisschen hinterher, sagt er lachend am Anfang der Woche. Montagabend hat er eigentlich keine Zeit sich auf die Prüfungen vorzubereiten. Ryan ist Mitglied in einer Studentenverbindung, die habe da ein wichtiges Meeting, erzählt er. Auch Dienstagabend wird schwierig, da muss er arbeiten. Neben dem Studium jobbt er bei einem Lieferservice. Wenn er von der Uni kommt, fährt er Burritos und Pizzen aus. Ryan bezahlt von dem Geld seine College-Gebühren, außerdem will er im Sommer nach Europa reisen.
Das Lernen fällt Ryan auch ohne den Stress schwer, sagt er. „Ich habe eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und werde sehr schnell abgelenkt. Schon in der High School konnte ich nie richtig aufpassen.“ Seine Eltern schickten ihn damals zum Arzt, bald kam die Diagnose: Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom, kurz ADHS. Ryan bekam ein Rezept. Adderall heißt die Pille, die im dabei helfen sollte, in der Schule den Anschluss zu finden.
Adderall ist ein stimulierendes Medikament, das in den USA bei einer ADHS-Diagnose verschrieben wird. In Deutschland werden bei dieser Diagnose meistens Ritalin oder Medikinet eingesetzt, beide Tabletten enthalten den Wirkstoff Methylphenidat. Adderall ist eine andere Pille, Adderall besteht aus Amphetamin. Im Zweiten Weltkrieg gaben die Amerikaner ihren Soldaten Amphetamin, um sie länger wach und konzentriert zu halten. 1996 kam Amphetamin in der Gesellschaft an. Der Pharmariese Shire Pharmaceuticals stellte es als das Medikament Adderall zur Behandlung von ADHS auf dem amerikanischen Markt vor. In Deutschland kennt man Amphetamin eher vom Schwarzmarkt als aus der Apotheke, bekannt als Pepp oder Speed. Konsumiert als Partydroge, um länger zu tanzen, besser drauf zu sein und die ganze Nacht wach zu bleiben.
So komisch es auch klingt, bei einer Diagnose, wie sie Ryan von seinem Arzt bekommen hat, hilft Amphetamin. Der Stoff erhöht den Herzschlag und den Blutdruck, macht gesunde Menschen also eher hippelig und nervös. Hyperaktive aber werden durch Amphetamin und Methylphenidat ruhiger, deshalb sprach man früher von paradoxer Wirkung von Stimulanzien. „Das Medikament wirkt bei allen gleich, egal ob ADHS oder nicht“, sagt Dr. Johannes Streif, der im Vorstand vom Verein ADHS Deutschland sitzt. „Der Unterschied ist, wenn man ein Aufmerksamkeitsdefizit hat, hilft das Medikament, dabei fokussiert zu bleiben.“
„Ich habe Adderall zum ersten Mal im Freshman-Year in der High School genommen“, erzählt Ryan
ADHS ist eine neurobiologische Störung, bei der Botenstoffe im Gehirn an den Stellen, an denen sie normalerweise benötigt werden, nicht in ausreichend zur Verfügung stehen. Stimulanzien, wie Amphetamin (Adderall) oder Methylphenidat (Ritalin) stoppen den Abbau dieser Botenstoffe, sodass diese länger im Gehirn verfügbar sind. Eine dieser Botenstoffe heißt Dopamin, zuständig für Motivation, Antrieb, Koordination und Regulierung des Appetits. In Verbindung mit Noradrenalin hat Dopamin hauptsächlich Einfluss auf unser Glücksempfinden. Beide Botenstoffe bleiben durch Stimulanzien wie Adderall und Ritalin länger im Gehirn. Dadurch helfen die Medikamente ADHS-Kranken, sich besser zu konzentrieren und sich zu fokussieren. So wirken sie auch bei anderen Menschen. Nur viel heftiger.
„Ich habe Adderall zum ersten Mal im Freshman-Year in der High School genommen“, erzählt Ryan. In Deutschland ist man da in der achten Klasse. Auch wenn es in vielen Berichten und Filmen so aussieht, hinterhergeworfen bekommen die Amerikaner die Pillen nicht. Einem Rezept gehen aufwendige Untersuchungen voraus, Reaktionstests, Aufmerksamkeitstests und IQ-Quizzes. Ryan bestand sie und bekam gegen seine nun diagnostizierte ADHS ein Rezept. Als er schon unter dem Medikament stand, wurde der IQ-Test wiederholt. Ryan schnitt um zehn Punkte besser ab.
„Der Unterschied zwischen Adderall und zum Beispiel Ritalin ist, dass Adderall acht bis zehn Stunden im Körper wirkt,“ sagt Streif. Bei Ritalin sind es nur drei bis vier Stunden. Außerdem macht Adderall mehr wach und euphorisiert. „Mit Adderall kann ich abends auf eine Party gehen und am nächsten Tag weiterlernen.“ Weil Adderall länger wirkt, wacher und euphorisierter macht, eignet es sich viel mehr zum Missbrauch als Ritalin.
Natalie* ist 22 und hat kein ADHS. Auch bei ihr stehen die Midterms an, auch sie wird zum Lernen wohl Adderall nehmen. Wenn Natalie viel zu Lernen hat, helfen die Pillen. „Auf Adderall kann ich den ganzen Tag in der Bibliothek sitzen und arbeiten.“ Laut dem National Survey on Drug Use and Health greifen 6,4 Prozent der Studenten zwischen 18 und 22 zu Adderall, um ihre Leistungsfähigkeit in der Uni zu steigern. Verkauft wird auf dem Campus von Leuten, die ein Rezept haben.
Obwohl Ryan beim IQ-Test auf Adderall zehn Punkte mehr hatte und Natalie damit ihre Hausarbeiten schneller schreibt – schlauer macht das Medikament nicht. „Stimulanzien wirken sich nicht kognitiv aus“, sagt Dr. Streif. „Man kann sich besser konzentrieren und bleibt fokussiert. Konkret wird es leichter, sich sechs Stunden hinzusetzen und zu lernen. Mehr hängen bleibt dadurch nicht. Das Medikament schafft künstliche Fixierung, keine künstliche Intelligenz.“
Auf Adderall befinde man sich im Modus wie ein Zombie, beschreibt Ryan. Stundenlang fokussiert, durch nichts abgelenkt. „Du guckst nicht aufs Handy, du wirst nicht müde. Du kannst sechs Stunden in der Bibliothek sitzen und arbeitest wie eine Maschine.“ Deshalb kauft sich Natalie bei viel Stress in der Uni eine Pille, auch wenn das in den USA ohne Rezept genauso so illegal ist wie in Deutschland. Amphetamin ohne Rezept wird in Amerika in der gleichen Drogenklasse wie Chrystal-Meth eingestuft.
Ryan weiß das, in seinem ersten Jahr auf dem College hat er mit Adderall gedealt. 50 Cent pro Milligramm. „Meistens hatte ich 10 oder 20 mg Pillen, also jeweils 5 oder 10 Dollar pro Stück. Du kannst damit gut Kohle machen.“ Trotz des Geldes hat er irgendwann aufgehört zu verkaufen, das Risiko war zu hoch. „Es ist ein Verbrechen und da hatte ich irgendwann keine Lust mehr drauf. Das war mir das Geld nicht mehr wert.“
Auch aus einem anderen Grund hat Ryan aufgehört, die Pillen zu verkaufen. Er braucht das Medikament gegen seine Krankheit. „Bei der Debatte um den Missbrauch, vergessen die Leute die ADHS-Kranken. Ich brauche die Medizin, ich könnte sonst nicht mit anderen Studenten mithalten.“ Ryan benutzt beim Sprechen das Wort medicine, nicht das Wort drug, wie eigentlich üblich. Es ist ihm wichtig klar zu machen, dass er Adderall als Medikament braucht, nicht als Hirndoping, um mehr lernen zu können.
Auch weil man mittlerweile schwerer an Nachschub kommt, hat Ryan aufgehört, mit Adderall zu dealen. Wenn er neue Tabletten will, muss er drei Stunden in seine Heimatstadt fahren und persönlich bei seinem Hausarzt erscheinen. Nur so bekommt er ein neues Rezept. Früher war das in Amerika anders. „Vor drei Jahren, als meine Schwester noch im College war, musste sie ihrem Doktor eine E-Mail schreiben und hat sofort ein Rezept für die Drogerie bekommen.“ In den USA bekommt man seine Medizin bei der Drogerie. Das Rezept wird vom Doktor zur Drogerie geschickt, Ryans Schwester konnte sich dort ihren Adderall-Nachschub abholen und musste nicht mal einen Arzttermin ausmachen.
„Am Ende dachte er, dass er Käfer unter der Haut hat“
Natalie schämt sich ein bisschen, wenn sie über Adderall spricht. Viele Studenten wollen nicht das Klischee vom vollgedopten College-Kid sein, dass Medikamente braucht, um gut in der Schule zu sein. Da sind aber auch noch die Eltern, der Druck erfolgreich zu sein, der Nebenjob und die College-Gebühren, die nach dem Studium abbezahlt werden müssen. Wer noch ein soziales Leben haben will, muss sich reinhängen. Und wer dazu mal nicht mehr genug Kraft hat, hilft eben nach. „Ich hoffe, ich konnte dir mit meinem komischen amerikanischen Medikamentengebrauch helfen“, sagt Natalie am Ende des Gesprächs und lächelt verunsichert.
Die Liste der Nebenwirkungen von Adderall ist riesig. Das Medikament verursacht Herzrasen, Appetitlosigkeit und Schwindel. Schlimmere Nebenwirkungen sind Halluzinationen, Psychosen, Leberkrankheiten, Schlaganfall und Herzstillstand. „Ich hatte einen Freund in der High School, der Adderall von einem anderen Typen gekauft hat“, erzählt Ryan. „Einmal hat er 120 mg genommen, was komplett absurd ist. Er hat immer weiter geschmissen, war drei Tage wach oder so. Am Ende dachte er, dass er Käfer unter der Haut hat. Er hat eine Bratpfanne genommen, sie erhitzt und seine Finger reingelegt, um die Käfer zu töten.“ Die Geschichte von Ryans Schulfreund ist ein extremes Beispiel, kann aber bei einer Überdosis Amphetamin vorkommen. „Man ist selbst für seinen Konsum verantwortlich und ich hatte nie ein Problem damit. Der Käfer-Typ war mental echt instabil. Da sollte man solche Medikamente nicht nehmen.“
Selbst hatte Ryan nie schlimmere Nebenwirkungen von Adderall. Einzig die Appetit- und Schlaflosigkeit macht ihm manchmal zu schaffen. Er hatte schon immer Probleme, zuzunehmen, erzählt er. Mit dem Adderall sei das schlimmer geworden. „Mir persönlich hilft Gras nach dem Konsum von Adderall sehr. Es macht dich hungrig und müde.“ Marihuana wirkt als Downer den Nebeneffekten von aufputschenden Stimulanzien entgegen. „Wenn ich Adderall nehme, komme ich abends heim und rauche Bong. Dadurch bekomm ich Hunger, koche und esse, rauche nochmal und lege mich dann schlafen.“
In Deutschland sieht Dr. Streif keinen Bedarf für Adderall. „Wir sind mit unseren Medikamenten gut aufgestellt,“ sagt er. „Ich persönlich finde, dass so lange Wirkzeiten von Stimulanzien wie bei Adderall unnötig ist.“ Warum wird aber dann in den USA so viel Amphetamin verschrieben? Im Jahr 2013 wurden 4,8 Millionen Rezepte ausgestellt.
Zum einen habe das historische Gründe, meint Dr. Streif. Während Adderall in den 90er Jahren in Amerika immer größer wurde, wurde Amphetamin in Deutschland kaum zur Behandlung von ADHS eingesetzt. Bis 2011 gab es kein Fertigprodukt auf dem deutschen Markt, bis dahin musste Amphetamin als Saft von Apotheken extra hergestellt werden. „Natürlich spielt auch das Missbrauchspotential eine große Rolle“, sagt Dr. Streif. „Adderall ist als Amphetamin-Mischprodukt gut verträglich und wirkt wie zehn Tassen Kaffee ohne Nebenwirkungen. Ritalin hat erst in sehr großen Mengen, die den üblichen Gebrauch zur Behandlung der ADHS um das zigfache überschreiten, eine euphorisierende Wirkung.“ Deshalb seien deutsche Ärzte mit dem Verschreiben von Amphetaminen vorsichtiger.
Ryan ist überrascht, als er hört, dass Adderall auf dem deutschen Markt nicht verfügbar ist. „Ich finde, es macht die Welt zu einem besseren Ort. Die Leute sind produktiver und glücklicher. Was soll daran falsch sein?“ In einer Leistungsgesellschaft sind die Menschen anfällig für Substanzen, die Leistung fördern. „Das fängt bei der täglichen Tasse Kaffee an“, sagt Dr. Streif. Und für viele Studenten geht es bis zur der Pille, die einen aufmerksamer und glücklicher macht. „Natürlich tun Stimulanzien einer Gesellschaft in gewissem Maße gut, wir sind produktiver und aktiver,“ sagt Dr. Streif. „Wir müssen uns aber fragen: Wollen wir irgendwann in unserer Gesellschaft einen Leistungsstandard haben, der künstlich von Medikamenten herbeigeführt wird?“
*Ryan und Natalie heißen nicht wirklich so. Sie verstoßen mit dem Konsum und Verkauf von Adderall gegen Gesetze. Deshalb haben beide darum gebeten, anonym zu bleiben.