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Scheinstudent über Betrug an der Universität
*Der Autor des Textes möchte anonym bleiben, weil er sich mit seiner Schein-Immatrikulation strafbar macht.
Vom Tanz und Rauch berauscht trete ich auf den Balkon. Pappbecher drohen von der Brüstung zu fallen, ein paar Schwankende lehnen aneinander. Es ist eine meiner ersten Unipartys, dort lerne ich auch Georg (Name geändert) kennen. Obwohl er sich flink bewegt und eine hohe Stimme hat, kommt er mir viel älter vor als ich – dabei ist er auch in meinem Studiengang. Allerdings eröffnet er mir, dass wir uns in den Seminaren nicht begegnen werden: „Ich bin am Institut eingeschrieben. Aber einen Abschluss mache ich hier bestimmt nicht“, sagt er.
Georg hat sein Diplom in einer anderen Stadt gemacht und ist hierher gezogen, um Kunst zu machen. Er nutzt das Equipment unserer Uni zum Arbeiten. Wie ein ewig Sitzengebliebener, denke ich. Und ich nehme mir vor, zielgerichteter zu studieren. Nur zum Schein eingeschrieben sein? Das ist doch Verrat, finde ich. Also damals, im Herbst vor sechs Jahren noch.
Heute bin ich selbst, wie Georg, ein Scheinstudent. Ich gehe nie zu Vorlesungen, nur manchmal hänge ich auf dem Campus ab, um Leute zu treffen. Als ich nach meinem Bachelorabschluss nicht direkt einen Masterplatz bekam, schrieb ich mich einfach nochmal für ein Bachelorstudium ein. Diesmal in einem Fach, das ich gar nicht studieren wollte. Seitdem profitiere ich von den Vergünstigungen für Studierende. Ein ermäßigtes Ticket für den öffentlichen Nahverkehr, die studentische Krankenversicherung - das alles senkt meine Lebenshaltungskosten. Da ich allerdings nicht vorhabe, Kurse an der Uni zu belegen, mache ich mich theoretisch des Betrugs strafbar. Das kann mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet werden. Von einem Fall, in dem ein Scheinstudierender tatsächlich angeklagt wurde, ist allerdings nichts bekannt. Obwohl ich mich damit schlecht fühle, lebe ich schon seit zwei Jahren mit meinem Status.
Als mir damals alle Masterplätze, auf die ich mich beworben hatte, abgesagt wurden, war das schmerzhaft. Viele meiner gleichaltrigen Freunde bekamen Zusagen, nur ich wurde aus meinem gewohnten Umfeld gerissen und war auf einmal von staatlicher Hilfe abhängig. Zur Sicherheit hatte ich mich allerdings auch auf ein zweites Bachelorstudium beworben. Dort wurde ich angenommen. Um zumindest etwas gegen die finanzielle Abhängigkeit zu tun, wollte ich Geld verdienen. Leider hatte ich während der ersten Jahre in der Uni nicht jede Semesterferien ein Praktikum gemacht, ein richtiger Job würde also schwierig werden. Und selbst gewöhnliche Praktikumsplätze werden lieber an Studierende als an Berufseinsteiger vergeben. Die müssen von den Unternehmen nämlich nicht mit dem Mindestlohn vergütet werden. Also nahm ich kleine Jobs an. Am Anfang noch im Hotel und Café, später dann als studentische Hilfskraft an dem Institut, in dem ich auch eingeschrieben bin. Mittlerweile habe ich mich in diesem Zwischenstatus eingerichtet und arbeite freiberuflich und in kurzfristigen Anstellungsverhältnissen. Komplett eigenständig kann ich mich aber noch nicht finanzieren, meine Familie unterstützt mich weiterhin.
Nach dem Treffen mit Georg im ersten Semester, habe ich noch viele andere Scheinstudierende kennen gelernt. Für die einen wird so die Jugend noch ein wenig verlängert, andere nutzen es aber auch, wie ich, als Zwischenzustand zwischen Ausbildung und Berufseinstieg. Wieder andere bekommen in ihrer Scheinstudienzeit Kinder, engagieren sich an der Uni oder ehrenamtlich.
„Während meiner Arbeit als Hilfswissenschaftler muss ich die Wahrheit unbedingt verschweigen“
Wie viele Studierende in Deutschland aktuell nur zum Schein studieren, kann nicht offiziell erhoben werden. Die Einschätzungen der Hochschulen schwanken zwischen „unerheblich“ bis „problematisch“. Eine Umfrage unter deutschen Unis aus dem Jahr 2013 für das häufig NC-freie Fach Physik ergab, dass im Bachelorstudiengang rund ein Drittel der Erstsemester keine Kurse besuchen. Studiengänge mit strengeren Zulassungsbedingungen haben vermutlich niedrigere Werte.
Meine Freunde, meine Familie und Bekannte wissen, dass ich nicht wirklich studiere. Verurteilt wurde ich dafür noch nicht. Nur während meiner Arbeit als Hilfswissenschaftler muss ich die Wahrheit unbedingt verschweigen. Wenn ich mit meinem Team in die Mensa essen gehe, fragt mich ein Doktorand gerne aus. Vor kurzem wollte er wissen, wie mein Studium läuft. „Ja, also Studium und Uni – das ist mir eigentlich nicht so wichtig“, habe ich mich versucht, herauszuwinden. Dann interessiert ihn auch immer, welche Kurse ich belegt habe. Ich habe also fieberhaft in meinem Gedächtnis gekramt – was gerade am Institut angeboten wird, wusste ich aber nicht. „Ich mache vieles außerhalb. Außerfachliche Kompetenzen und so“, ist mir dann nur eingefallen. Stimmt ja auch, irgendwie.
Manchmal hasse ich mich dafür, dass ich ihm nicht sagen kann: Ich mache viel unbezahlte Arbeit, bewerbe mich auf Praktika und schreibe Texte. Aber ich habe Angst davor, exmatrikuliert zu werden, mir einen neuen Job suchen zu müssen, der mich auffrisst und keinen Spaß macht. Außerdem will ich nicht als Lügner dastehen.
Ich frage mich, ob andere Fake-Studenten wohl auch diese Gewissenskonflikte haben. Georg von der Uniparty ist heute 34 und immer noch an derselben Uni eingeschrieben wie vor sechs Jahren. Derzeit finanziert er sich aus dem Erbe seines Großvaters und wird von seinen Eltern unterstützt. Als ich ihn frage, wie es ihm damit geht, sagt er: „Ich könnte Sachen machen, die gesellschaftlich mehr akzeptiert sind. Bei denen ich viel Geld verdiene, aber warum sollte ich?“ Georg macht Theater und dreht Filme, mit denen er bisher nichts einspielt. Er findet seinen Lebensstil vollkommen legitim. Ob er Hartz IV beziehe oder von Uni und Eltern unterstützt werde, um Kunst zu machen, darin sieht Georg keinen Unterschied.
"Georg und ich erschleichen uns als Scheinstudenten also viel Geld vom Staat"
Trotzdem verursachen Menschen wie Georg und ich natürlich Kosten für die Uni, die von den Steuerzahlenden getragen werden. Auch wenn Scheinstudierende nicht bei den Seminaren anwesend sind, werden Personal- und Räumlichkeiten für sie geplant und bereitgestellt. Die jährlichen Kosten für einen Studienplatz sind abhängig von Bundesland und Studienplatz, im Jahr 2013 lagen sie durchschnittlich bei knapp 11.000 Euro pro Student. In den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sind die Plätze generell billiger, weil mehr Studierende pro Lehrperson betreut werden. Ein Platz in der Humanmedizin kostete eine Uni hingegen 2013 durchschnittlich 32.000 Euro im Jahr. Staatliche Fördergelder bekommen dabei viele Universitäten nur, wenn die Studierenden ihr Studium auch abschließen.
Georg und ich erschleichen uns vom Staat also viel Geld, indem wir angebotene Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Eine hinterhältige Trickserei, könnte man sagen. Unser Glück, dass die Universitäten deshalb bisher noch nicht vor Gericht gezogen sind.
Können aber Fake-Studierenden manchmal auch nützlich sein für die Unis? Dauerstudent Lars* ist offiziell im 26. Semester Physik und hat in seinem Fach anfangs auch tatsächlich Veranstaltungen besucht. Nachdem er alle Scheine zusammen hatte, ist er an der Uni geblieben, um sich vor Ort einzubringen. Ich möchte wissen, was ihn hier hält und treffe ihn im Foyer seiner Fakultät. Der ruhige, große Anfangdreißiger strahlt selbstsicher während er mich durch die Gänge des 70er Jahre-Baus führt. „Man wird hier zum Funktionieren ausgebildet und nicht dafür, dass man einen freien Geist entwickelt“, sagt Lars über die Uni. Er sieht aber auch viel ungenutztes Potenzial an seinem Lernort. Deshalb ist er Fan von studentisch organisierten Initiativen.
Vor zehn Jahren gründete Lars zusammen mit Anderen Foodcoop, ein studentisch organisiertes Liefersystem für Gemüse. Das Unternehmen liefert regionales Gemüse, das sich die Studierenden gegen Bezahlung abholen. Lars kümmerte sich um die Verwaltung und den Kontakt mit den Bauern. Die Gründungszeit des Netzwerks beschreibt er als wichtig für sich. „Ich mache Sachen, auf die ich Lust habe. Da ist nicht die Frage, ob das von außen als sinnvoll gesehen wird“, sagt er.
Schon früher hatte er probiert, das aus seiner Sicht Beste aus seinem Studium heraus zu ziehen, indem er Kurse belegte, die ihn interessierten und für die er keine Scheine bekam. Er brachte sich auch sehr aktiv in der Hochschulpolitik ein und engagierte sich in der studentischen Lehre. „Ich bin jetzt aus der Uni raus gewachsen“, sagt Lars aber heute. In sechs Wochen wird er seine Diplomarbeit abgeben. Selbstständig organisierte Projekte will er weiterhin machen. Viele Scheinstudierende wie Lars und Georg vertrödeln ihre Zeit also nicht. Wir sind nicht ausschließlich Schmarotzer, die den Staat anzapfen, um bunte Partys zu feiern. Sondern auch Kinder einer Zeit, in der eine Festanstellung häufig erst auf viele Jahre unbezahlte Arbeit folgt.
Trotzdem werde auch ich im Oktober einen Master beginnen. Und ich habe mir eingestanden, dass ich mich auch anders, auf fairere Weise auf Jobs hätte vorbereiten können. Ich hätte Praktika schon während meines ersten Studiums machen und die Wartezeit auf den Master mit Nebenjobs überbrücken können. Trotzdem habe ich die letzten zwei Jahre als sehr wertvoll empfunden. Weil ich viel ausprobieren konnte. Ich würde mich aber trotzdem nicht noch einmal dafür entscheiden, mich nur zum Schein zu immatrikulieren.