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Chancengleichheit: Warum Lillis Weg zum Abitur so hart war
Eine Hochhaussiedlung im Osten Berlins. Im obersten Stock eines zwölfstöckigen Gebäudes steht Lilli an einem Fenster. Sie blickt auf einen begrünten Hinterhof, eingeschlossen von großen Plattenbauten. „Die Gegend ist jetzt nicht mega der Hammer, aber es passt.“ Gerade besucht sie die Abschlussklasse eines Abendgymnasiums. Tagsüber lernt Lilli und macht Musik, abends sitzt sie in der Schule. Mit 30 zum Abitur.
Ob sie sich ihr Leben vor zehn Jahren so vorgestellt hatte? „Früher hatte ich glaub ich gar keine Vorstellung“, antwortet sie. „Ich wollte einfach nicht untergehen“. Lilli überlegt nicht lange, bevor sie auf Fragen antwortet. Auch nicht auf die Frage, wie es sich damals anfühlte, bei einer gewalttätigen Mutter aufzuwachsen. Wie es war, als sie weglief und auf der Straße lebte. Und wie es sich anfühlte, mit einem Abschluss von der Schule zu gehen, der ihr keine Perspektive bot irgendwann in ihrem Leben etwas zu machen, das sie glücklich machen würde.
Lilli möchte ihre Geschichte erzählen. Wie hart es von ganz unten nach oben war, vom Straßenleben und Schulabbruch zum Studium. Für sie ist es nicht nur Vergangenheitsbewältigung, sondern auch Vorwurf an eine Gesellschaft, die Kinder mit schlechten Startbedingungen wie sie viel zu wenig unterstützt.
„Ich hatte echt Angst, dass die mich irgendwann umbringt“
Geboren wird Lilli in einem Dorf in Thüringen als Ergebnis eines One-Night-Stands. Ihren Vater lernte sie nie kennen und ihre damals 17-jährige Mutter war von Anfang an überfordert. „Sie machte mich verantwortlich für alles was schief lief in ihrem Leben“, erzählt Lilli. Dann berichtet sie, wie sie mit acht Jahren in der Küche stehen und sich ihr Essen selbst zubereiten musste. Lilli wirkt dabei sehr gefasst, als ob sie längst damit abgeschlossen hätte.
In der Schule wurde sie gemobbt. „Ich hatte immer die uncoolen Klamotten“, erzählt sie. „Meine Mum hatte wenig Geld und war geizig“. Zuhause ließ die Mutter ihren Frust an ihr aus. Einmal verprügelte sie Lilli so doll, dass ihr Großvater dazwischen ging. „Hör auf, du schlägst sie noch tot“, soll er gerufen haben. Damals ging Lilli in die erste Klasse. Eine von ihren Lehrerinnen rief bei ihr zu Hause an und fragte, ob Lillis Mutter sie verprügele. Nachdem die Mutter verneinte, fragte niemand mehr nach. „Ich hatte echt Angst, dass die mich irgendwann umbringt“, meint Lilli.
Mithilfe eines Sozialarbeiters schafft Lilli es mit elf Jahren, in ein Heim zu ziehen. In den kommenden Jahren wurden es fünf verschiedene. Zwischenzeitlich lebte sie sogar einige Monate auf der Straße, weil sie es in einem Heim nicht aushielt. „Das ist schon hart, wenn du dir abends einen Schlafplatz in einem Keller suchst oder durch die Fenster siehst, wie gemütlich die anderen in ihren Wohnungen leben.“ Schule war in der ganzen Zeit kein Thema für Lilli. Zum einen hätte sie mit anderen Problemen zu kämpfen gehabt, zum anderen besaß sie keine Motivation. „Die Lehrer haben alle zu mir gesagt, aus mir wird eh nichts“, erzählt sie und zuckt mit den Schultern. „Wofür sollte ich mich also anstrengen?“
Lilli sieht gar nicht ein, sich von ihrem Weg abbringen zu lassen. Aber nicht jeder hat vermutlich so viel Kraft.
Obwohl es für sie sogar schwer war, auf die Realschule zu kommen, hat sie am Ende Abitur.
Heute ist Lilli so etwas wie eine Abitur-Musterschülerin, Durchschnittsnote 1,2. Als sie mit 16 ihre Bildungslaufbahn abbrach, hatte sie den Hauptschulabschluss mit Durchschnittsnote 4. Mit so einem Abschluss ist es schwer, überhaupt einen Job zu bekommen. Damals habe sie das erste Mal nachgedacht: „Wenn ich jetzt so weitermache“, blickt Lilli zurück, „lande ich in ein paar Jahren als Pennerin vorm Supermarkt oder bin bald tot.“ Zu regelmäßigem Alkoholmissbrauch kam weiterer Drogenmissbrauch hinzu. „Wenn du kein Ziel hast, ballerst du dich halt zu.“ Das war der Moment, als Lilli entschied, noch einmal die Schule anzupacken. Sie nennt es Torschlusspanik, denn „mit diesem Hauptschulabschluss kannst du gar nichts werden“, sagt sie. „Nicht mal Putzfrau.“ Sie hatte keinen Plan, kein Ziel – außer, dass sie weder auf der Straße landen, noch ihr Leben lang für einen niedrigen Lohn sich „abschuften“ wollte, wie sie es nennt.
„In Deutschland hast du es krass schwer, wenn du mit dem falschen Background geboren wirst“
Hilfe von Behörden hätte sie kaum bekommen. „Die haben mich da nicht mal mit dem Arsch angeguckt. In Deutschland hast du es krass schwer, wenn du mit dem falschen Background geboren wirst.“ Die Realschule lehnte ihre Aufnahme ab, weil ihre Leistungen zu schlecht seien. Erst in einem persönlichen Gespräch konnte sie den Direktor überzeugen. Das Schüler-Bafög bekam sie aus bürokratischen Gründen erst nach langem Einsatz und es reichte gerade so für die grundlegenden Dinge. Damit sie am Ende des Monats nicht hungerte, unterstützte eine Lehrerin sie mit Essensspenden. Drei Jahre zog sie das durch und machte am Ende ihren Realschulabschluss, Durchschnittsnote 3,5.
„Man kann von deinem Klingelschild und deinem Stadtteil ablesen, wie weit du es in diesem System schaffst.“ Das sagt Professor Carsten Rohlfs, der an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg unter anderem untersucht, wie soziale Ungleichheit und Bildungschancen zusammenhängen. Fast die Hälfte aller Kinder, von denen mindestens ein Elternteil Abitur gemacht hat, finden sich auf einer Universität wieder. Von den Kindern, deren Eltern einen Berufsabschluss ohne Abitur gemacht haben, sind es nur ein Viertel. Und nur knapp ein Zehntel der Kinder von Eltern, die weder Berufsabschluss noch Abitur haben, schreiben sich für ein Studium ein, so die Zahlen aus einer Studie von 2018 des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW).
„Es gibt Familien, da gibt es keine Bücher, man besucht keine Museen oder Theater, da ist Bildung nicht präsent“, analysiert er. „Kinder aus solchen Familien haben von Haus aus einen Nachteil – und der wird von unserem System nicht ausgeglichen“.
Aus seiner Sicht führt die Einteilung in Gymnasium und andere Schultypen zu mangelndem Selbstwertgefühl. „Man sammelt Schüler*innen in einer Gruppe, die alle das Gefühl haben, nicht schlau genug zu sein“, sagt Rohlfs. Im Ergebnis würden sie sich gegenseitig darin bestärken. „Wenn jemand wie Lilli einmal drin hat ‚Ich schaff das nicht, ich kann das nicht‘, dann ist es sehr schwer, das wieder herauszubekommen und sich hochzukämpfen“, meint er. „Viele haben nicht die Kraft dazu und geben diesen Kampf auf. Es sind eher Einzelfälle, die das schaffen“.
„Ich hab‘ keine Lust etwas zu tun, das mir keinen Spaß macht und kein Geld bringt“
Wenn Lilli sich heute ihr Zeugnis von der Realschule anschaut, verfinstert sich ihr Blick. „Ich hatte damit gar keine Chance zu zeigen, was ich wirklich drauf habe und zu machen, was ich wirklich machen wollte.“ Nach ihrem Realschulabschluss jobbte Lilli hier, begann eine Ausbildung da, aber nichts passte. Für Lilli war klar: „Ich hab‘ keine Lust etwas zu tun, das mir keinen Spaß macht und kein Geld bringt. Ich will studieren“. Deshalb schrieb sie sich an einem Abendgymnasium ein. Dieser Weg ist anstrengend. Da es das Schüler-Bafög erst nach drei von sechs Halbjahren gibt, musste Lilli tagsüber arbeiten. Heute kann sie sich mit der staatlichen Unterstützung ohne den Arbeitsstress auf ihre Schule konzentrieren.
Das Arbeitsamt drängte Lilli immer wieder eine Arbeit aufzunehmen, selbst wenn das bedeutet hätte, dass sie ihre Schule abbrechen müsste. Dank vieler Kniffe und glücklichen Fügungen schafft es Lilli, ihr Gymnasium weiterhin zu besuchen. Heute ist sie noch ein Jahr von ihrem Abschluss entfernt und eine der besten ihres Jahrgangs.
Trotzdem fühlt sie sich unwohl. „Wenn ich an den großen Unigebäuden vorbeilaufe, denke ich immer, ich pass da eh nicht rein“, meint sie. Lilli berichtet von Angst, dass andere Studierende sie nicht verstehen könnten. „Leute, die ganz normal aufgewachsen sind, können sich das nicht vorstellen. Aber für mich ist das Studileben wie eine andere Galaxis. Und dann denk‘ ich mir, am Ende kommt es doch wieder darauf an, wie viel Geld du hast, wen du kennst und was deine Eltern gemacht haben.“ Und mit einer schnellen Bewegung schlägt sie ihren Zeugnisordner zu.