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Wie lerne ich richtig? Neurowissenschaftler Henning Beck erklärt
Wer für eine Prüfung lernt, hat oft kurz danach das meiste wieder vergessen. Denn das Problem ist, dass wir etwas, das wir lernen, auch wieder ver-lernen können. Das sagt zumindest der Neurowissenschaftler Henning Beck, 38, der in seinem Buch „Das neue Lernen“ (Untertitel: „Heißt Verstehen“) erklärt, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet und speichert und warum nur hängenbleibt, was wir wirklich verstanden haben. Was bedeutet das für unsere Prüfungsvorbereitung? Was für unser Bildungssystem? Wieso hält Henning Beck „Lerntypen-Tests“ für Blödsinn? Und wieso ist es nicht erstrebenswert, ein „Computerhirn“ zu haben?
jetzt: Ich habe in der Schule Französisch gelernt, es jahrelang nicht gesprochen und lerne es jetzt wieder neu. Die meisten Leute haben zu mir gesagt: „Das kommt schnell wieder, das ist noch irgendwo gespeichert!“ Stimmt das? Hat mein Gehirn die Fremdsprache in der Zwischenzeit irgendwo abgelegt?
Henning Beck: Nein, denn wenn ich das Gehirn aufschneide, finde ich da nirgends eine Sprache. Aber wenn man schonmal eine gelernt hat, kommt man sehr viel schneller wieder rein, weil die Fähigkeit, mit einer Sprache umzugehen, sich also in Grammatiken, semantische Zusammenhänge und Ausdrucksformen reindenken zu können, nicht verloren geht. Die ist übrigens universell – darum wird jemand, der schon acht Sprachen kann, eine völlig andere neunte Sprache sehr viel leichter lernen als jemand, der nur eine Sprache kann.
Das Gehirn wird oft mit einer Festplatte verglichen. Du schreibst in deinem Buch, es sei eher wie ein Orchester. Wie meinst du das?
Es gibt die Vorstellung, dass ich etwas ins Gehirn „reinlade“, damit ich es später wieder „abrufen“ kann – aber Gedanken und Informationen liegen ja nicht irgendwo im Gehirn rum, sondern entstehen, weil Nervenzellen zusammenspielen. Wie bei einem Orchester, in dem die Musik auch erst entsteht, wenn die Leute miteinander spielen.
Und du sagst, dass dieses Zusammenspiel bedeutet, dass man für echtes Wissen etwas „verstehen“ muss und nicht nur „lernen“. Wie muss ich mir den Unterschied konkret im Gehirn vorstellen?
Klassisches Lernen ist oft Auswendiglernen. Man nimmt viele Informationen auf und sie werden im Gehirn zwischengespeichert, in einer Region, die man Hippocampus nennt. In der Nacht, während man schläft, würgt der Hippocampus die wichtigsten Infos des Tages hervor und aktiviert die Muster immer und immer wieder, bis das Großhirn feststellt: „Das ist wichtig, also passe ich mich mal so an, dass diese Muster leichter ausgelöst werden können.“ Klassisches Lernen bedeutet also, sich Informationen reinzuhauen, um sie dann irgendwann fehlerfrei wieder abrufen zu können.
„Im Internet ist überhaupt kein Wissen verfügbar – für Wissen braucht es das Gehirn“
Und wenn ich etwas verstehe?
Wenn Menschen einen „Aha-Moment“ haben, wenn sie sagen: „Ah, jetzt habe ich es verstanden“, sind in diesem Moment ganz andere Areale im Gehirn aktiv als beim Lernen, zum Beispiel die Bereiche, die Wortbedeutungen verarbeiten oder die für räumliches Vorstellungsvermögen zuständig sind. Denn Verstehen bedeutet, die Art zu ändern, wie man denkt, sodass man auch neue Probleme bearbeiten kann und nicht nur stumpfsinnig Infos wiedergibt.
Und so entsteht dann Wissen?
Wissen ist die Fähigkeit, mit Informationen umzugehen, um damit einen Sinn zu erreichen oder ein Problem zu lösen.
Ist die Annahme, dass durch das Internet alles Wissen der Welt immer und überall verfügbar ist, richtig?
Im Internet ist überhaupt kein Wissen verfügbar, sondern nur Datensätze und bestenfalls Informationen. Damit daraus Wissen wird, muss jemand aktiv darüber nachdenken. Und dafür braucht es ein menschliches Gehirn.
Demnach ist es auch gar nicht erstrebenswert ein „Computerhirn“ zu haben?
Um Gottes Willen, nein! Erstens sind Computer extrem schlecht darin, mit wenig Energie schnell zu einer Lösung zu kommen. Wir können manchmal einfach sagen: „Jetzt hat es Klick gemacht, ich hab’s kapiert!“ – das können Computer nicht. Und zweitens speichern Computer viel und dann dauert es auch lange, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Aus dem eigenen Alltag kennen wir das „Tip of the Tongue“-Phänomen, die richtige Antwort liegt einem auf der Zunge, aber man kommt nicht drauf. Das passiert vor allem, wenn man viel weiß – denn wenn man viele Daten hat, dauert es einfach lange, sie zu durchsuchen.
„Man versteht eine Antwort immer besser, wenn man selbst eine Frage gestellt hat“
Was bedeutet der Unterschied zwischen „Lernen“ und „Verstehen“ für mich, wenn ich zum Beispiel für eine Prüfung lernen will?
Vor allem, dass du dich nicht auf Lerntechniken verlassen solltest, die angeblich dafür sorgen, dass das Gelernte besser „abgespeichert“ wird, also: Wiederholung, Unterstreichungen, Eselsbrücken. Denn wenn Wissen darin besteht, dass Nervenzellen zusammenspielen, bedeutet das auch, dass du dein Gehirn nicht wie eine Festplatte behandeln darfst, in die du viel reinhaust.
Was sollte ich stattdessen tun?
Wenn du für eine Prüfung lernst, solltest du nicht versuchen, einfach Informationen wiederzugeben, sondern sie erstmal in Schaubildern veranschaulichen und dir danach Fragestellungen überlegen, um sie anzuwenden.
Also soll ich mir selbst eine Prüfung ausdenken?
Ja, eine der besten Techniken, um sich vorzubereiten, ist, sich selbst zu testen. Man kann das ja auch zusammen mit anderen machen und sich gegenseitig eine Prüfung stellen.
Kann man denn vernünftige Prüfungsfragen stellen, wenn man noch nicht alles weiß?
Wer am wenigsten weiß, kann doch am besten Fragen stellen! Wenn du den Stoff noch nicht verstanden hast, dann stell doch diese Frage als Prüfung für die anderen und schau, was dabei rumkommt. Außerdem versteht man eine Antwort immer besser, wenn man selbst eine Frage gestellt hat.
Was bedeutet deine These für das Bildungssystem?
Das Problem ist, dass in der Schule, in der Weiterbildung und ganz generell in unserem Leben versucht wird, Unklarheit zu vermeiden. In der heutigen Medienwelt wird uns alles möglichst eingängig in Häppchen erklärt. Es ist eine sehr bekloppte Idee, dass man Wissen so effizient vermitteln kann – denn Wissen entsteht nur, wenn aus Unklarheit Klarheit wird, wenn wir ein Rätsel lüften. Gute Wissensvermittlung ist darum immer ein bisschen ineffizient.
Inwiefern?
Man stellt erst ein Geheimnis hin und lässt die Menschen ausprobieren. Erst im Anschluss erfolgt die Auflösung. Wie bei Ostereiern: Man versteckt sie, um Neugier zu schaffen. Genauso ist guter Unterricht: Man macht zunächst hungrig auf Wissen und lüftet am Ende das Geheimnis. Denn erst wenn sich Menschen aktiv mit etwas beschäftigen, verstehen sie es.
„Einige Sachen muss man auswendig lernen, um geistige Werkzeuge zu haben – zum Beispiel das kleine Einmaleins“
Gilt dieses „Verstehen durch Ausprobieren“ wirklich immer? Braucht es manchmal nicht einfach den guten, alten Frontalunterricht?
Ich möchte gar nicht sagen, dass man permanent ausprobieren soll. Einige Sachen muss man wirklich auswendig lernen, um geistige Werkzeuge zu haben, zum Beispiel das kleine Einmaleins. Oder schreiben: Kein Sechsjähriger wird von sich aus die deutsche Orthografie hinkriegen, das muss man am Anfang tatsächlich sehr stringent lernen. Aber: Wenn Menschen irgendwann an den Punkt kommen sollen, aktiv Probleme lösen zu können – und das ist letztlich die Aufgabe von Bildung – dann muss ich diesen Menschen auch Freiheiten geben, Dinge auszuprobieren.
Viele wollen vorm Lernen erstmal rausfinden, welche „Lerntypen“ sie sind, also ob visuell, haptisch, auditiv und so weiter …
… und das ist kompletter Schwachsinn.
Warum?
Das wäre so, wie wenn ich eine Analyse mache, was mein Lieblingsessen ist, bei der rauskommt, dass ich gerne Müsli, Kaffeestückchen und Nudeln esse. Ergebnis ist also: Er mag Kohlenhydrate. Und dann soll der Ernährungstipp sein: hauptsächlich Kohlenhydrate? Das ist doch Quatsch, denn eigentlich muss ich mich abwechslungsreich ernähren – und bei geistiger Ernährung ist das genauso. Wenn beim Lerntypen-Test rauskommt, dass ich gerne lese, sollte ich gerade nicht lesen, sondern alle anderen Kanäle benutzen.
Es heißt ja immer, dass man besser lernt, je jünger man ist. Ist das wirklich wahr?
Es kommt darauf an. Sprachen zum Beispiel kannst du nur vor der Pubertät auf Muttersprach-Niveau lernen. Auch sehr filigrane und präzise Bewegungen sollte man schon in Kinderjahren lernen. Bei vielen anderen Dingen ist das aber nicht unbedingt der Fall, denn das Gehirn erreicht erst nach 20 bis 25 Jahren seine maximale Leistungsfähigkeit. Und auch danach lernen wir noch viel und haben Möglichkeiten, uns neues Wissen dazu erarbeiten. Das Gehirn ist also niemals fertig – und es ist auch niemals voll.
Dieses Interview erschien erstmals am 15.03.2020 und wurde am 02.05.2021 nochmals als Best-of-Text veröffentlicht.