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Über dem Bauchnabel der Urwald

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Ein „V-Neck“ ist ein T-Shirt mit einem spitz auf die Brust zu laufenden Ausschnitt. Das V-Neck macht Männern ein Dekolletee. Die Firma American Apparel bietet zwölf verschiedene Modelle an, acht davon für Männer: von züchtig-angedeutet bis zum lasziven Ich-zeig-Dir-gleich-meinen-Bauchnabel. Das V-Neck ist das sich am besten verkaufende Produkt der Firma. Ich soll mir darüber Gedanken machen, weil ich als einziger in der Redaktionskonferenz heute ein V-Neck trug. Es ist sehr leicht, sich Gedanken über Mode zu machen. Mode steckt voller Zeichen. Die Krawatte zum Beispiel ist ein Phallussymbol. Ein langer dünner Streifen in Signalfarben, der auf eine entscheidende Stelle in der unteren Körperhälfte zeigt. Männer tragen sie, um ihren Penis zu betonen. Die Krawatte ist die Schwanzverlängerung des Versicherungsangestellten. Schuhe mit hohen Absätzen symbolisieren die Unbeweglichkeit der Frau. Die Trägerin ist gezwungen, kleine Schritte zu machen, was wiederum auf Männer anziehend wirkt, weil sie denken: Diese Frau muss von mir beschützt werden. Alleine kann sie ja so nicht vor einem Bären wegrennen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Steile Thesen, ja ja, aber man muss den Dingen auch einmal ins Auge sehen: Wer behauptet, Mode sei ihm egal, er wolle mit seiner Kleidung gar nichts aussagen, der lügt. Man kann nämlich nicht nichts sagen. Selbst wenn einer gar nichts sagen will und nackt zur Arbeit geht, sagt er damit etwas. Er sagt dann: Ich interessiere mich nicht für Trends. Oder: Ich mache mir prinzipiell nicht so viele Gedanken darüber, wie ich aussehe; innere Werte sind viel wichtiger als gesellschaftliche Normen und Unterhosen. Wenn jemand ständig nach der neuesten Mode gekleidet ist, drückt er aus: Ich will dabei sein und zwar ganz vorne. Neben den persönlichen Statements röhrt im Hintergrund der bedeutungsschwangere Chor des Trends. Das ist eher so ein Soundteppich wie bei einem Langstreckenflug die Turbinen. Erst beim Aussteigen fällt einem auf, dass das doch ziemlich laut war. Ganz früher, so Anfang der Neunziger, als Kurt Cobain sich mit einer Schrotflinte das Gehirn wegschoss, trugen alle Männer Holzfällerhemden. Sie wollten damit irgendwie zum Ausdruck bringen: Eigentlich wäre ich lieber ein einsamer Holzfäller in der Wildnis und würde nackt durch den Wald laufen. Aber die Zivilisation lässt mich nicht. Heute sind die Signale junger V-Neck-Männer ganz andere als Anfang der Neunziger. Sie lauten in etwa: Ich bin ein Mann und kann trotzdem ein Dekollete tragen. Ich bin lässig drauf und jung geblieben. Ich habe zwar breite Schultern, benutze aber täglich eine Antifalten-Creme. Vielleicht sagen sie sogar: Ich enthaare meinen Körper regelmäßig. Aber auch: Setzt mich bloß nicht in der Wildnis aus, da hole ich mir sofort eine eitrige Angina. (Weswegen V-Necks auch ganz wunderbar mit Sommerschals korrespondieren.) Zu den Frauen sagen die V-Neck-Männer: Stöckelschuhe? Und wie willst Du damit vor einem Bären wegrennen? Ich kann Dich nicht retten, ich muss selbst schauen, wie ich meinen Arsch ins Trockene kriege. Kauf Dir mal lieber ein paar Asics, dann kannst Du selber rennen. Manche Modeexperten sehen das V-Neck als ein weiteres Indiz für die Metrosexualisierung des Mannes und das Verschwimmen der Geschlechterunterschiede. Einige, wie Mark-Evan Blackman vom „Fashion Institute of Technology in New York City“, sagen sogar: Das V-Neck zeigt, dass Männer nun nicht mehr reich und erfolgreich sein müssen, sondern auch endlich mal einfach schön sein dürfen. So etwas war früher nur Frauen vorbehalten. Aber das V-Neck hat auch ganz andere Konnotationen. Es ist exklusiv auf einen kleinen Trägerkreis beschränkt. Man könnte sogar sagen: Das V-Neck diskriminiert. Männer mit Haaren auf der Brust sehen damit aus wie ein Schimpanse, den man gezwungen hat, sich für eine Fernsehserie etwas anzuziehen: Lächerlich und deplaziert. Diesen Gedanken muss man einmal weiterspinnen. Das V-Neck wäre also nichts anderes als ein weiterer Versuch metro- bis homosexueller Männer ohne Brustbehaarung behaarte Männer zu demütigen. Ein subtiles Mobbinginstrument der homosexuellen Modebranche gegenüber dem behaarten Mann. Die Opfergruppe überschneidet sich nämlich just mit der Personengruppe, der es aufgrund der muskulösen Struktur ihrer Beine nicht möglich ist, Röhrenjeans zu tragen, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Auf Facebook gibt es mittlerweile 347 Gruppen, die den Begriff „V-Neck“ enthalten. Darunter die “American Apparel Deep V-Neck Appreciation Society“ aber auch die “I can't respect a man in a v-neck“-Gruppe. Eigentlich verrückt, wie viele Gedanken man sich über ein T-Shirt machen kann. Ich mag übrigens Menschen, die wenig sprechen. Weil man nicht immer zu allem seinen Senf dazu geben muss und die Presse oft Dinge überinterpretiert. Manchmal würde ich auch gerne nichts sagen. Und nackt durch den Wald rennen. Aber dafür habe ich den falschen Beruf.

Text: philipp-mattheis - Montage: Katharina Bitzl

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