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„Die Wahrheit ist umkämpfter denn je“

Illustration: Katharina Bitzl

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Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaften in Tübingen und Autor mehrerer Bücher über den Konstruktivismus. Diese Theorie besagt, dass jeder von uns seine eigene Wahrheit konstruiert. Ein Gespräch über Fake News, Propaganda und natürlich: Trump.

jetzt: Herr Professor Pörksen, wir wollen über Fakten und Wahrheit reden. Fangen wir mit einer einfachen Frage an: Wer sind Sie? 

Bernhard Pörksen: Die einfachste Antwort: Ich bin Medienwissenschaftler in Tübingen. 

Das stimmt. Nur kann das für Sie und mich etwas ganz Unterschiedliches bedeuten, richtig?

Es lässt sich kaum sinnvoll bestreiten, dass ich an einer Universität arbeite. Aber was das genau bedeutet, ist für jeden unterschiedlich. Für manche ist der Professor eine Angst- oder Autoritätsfigur. Für den nächsten ist er das zweifelhafte Mitglied einer korrupten Pseudo-Elite. Für den dritten wiederum eine Quelle intellektueller Inspiration. Daraus entspringen zig verschiedene Wirklichkeiten, die durch ein einzelnes Wort sehr unterschiedlich abgerufen werden.

Ähnlich wie bei dem Kleid damals – das viral ging, weil manche es gelb, andere blau sahen – ist also jede Wahrnehmung gleich „wahr“?

Belegbar ist, dass Menschen die Kleiderfarbe unterschiedlich sehen. Was das bedeutet, wie sich das Phänomen erklären lässt – darüber können und müssen wir streiten. Und in jedem Fall wird hier das zentrale Motto des Konstruktivismus erfahrbar: Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt. Den und seine Brille, durch die er die Welt sieht, kann man aus der Gleichung nicht rauskürzen. Man muss sie immer mitdiskutieren.

„Totalzweifel plus Fundamentalismus – genau das ist Donald Trump“ 

Im Fall des Kleides wäre also die Tatsache, dass alle ein Kleid sehen, die kleinste gemeinsame Wahrnehmung. Über die unterschiedlichen Wahrnehmungen, die folgen, wird dann gestritten. Und das gibt Stress.

Das ist das Urerlebnis des Netzbürgers: Die Kontroverse, der Clash der Wirklichkeiten. Das Netz hat die Theorie des Konstruktivismus in eine schmerzhafte Alltagserfahrung verwandelt. Jeder lebt in seiner eigenen Realität. Im Netz prallen die unterschiedlichen Welten aufeinander wie nie zuvor. Daraus entstehen Gereiztheit, Wut, auch Hass.

Wo hört das auf? Wie erkenne ich die kleinste gemeinsame Wahrheit, auf die ich mich verlassen kann?

Idealerweise einigt man sich – auf der Basis überlegter Argumente und gemeinsamer Anschauung. Manche flüchten sich jedoch lieber in einen Fundamentalismus, je mehr sie mit anderen Sichtweisen konfrontiert werden. 

Also sind wie immer die anderen das Problem? Diejenigen, die nicht so flexibel sind wie ich? 

Nein. Es gibt auch den „Pluralitätseuphoriker“, der immer alle anderen belehren will, dass sie leider nicht ausreichend flexibel und tolerant sind, sich nicht ausreichend über die so wunderbare Realitätsvielfalt freuen können. Auch er weicht dem ernsthaften Gespräch aus.

Kann der Konstruktivismus vielleicht einfach weg? Weil er seinen ursprünglichen Zweck erfüllt hat, in der Zeit nach dem Nationalsozialismus totalitäre Ideologien aufzubrechen?

So hart würde ich nicht formulieren. Aber es stimmt: Der Konstruktivismus war als Medizin gegen den Dogmatismus gedacht, nicht als Modephilosophie für akademische Sektierer. Als neue Heilslehre steht er traurig da.

Sie könnten jetzt abschwören, trotz oder gerade wegen Ihrer vier Bücher über das Thema.

Ich zögere. Denn das Problem ist heute ein anderes: die Mischung aus Pseudo-Konstruktivismus und Wahrheitsfuror. Totalzweifel plus Fundamentalismus – genau das ist Donald Trump. Einerseits misstraut er allem und jedem, präsentiert jeden, der ihn kritisiert, als Fake-News-Produzenten. Sich und die Seinen jedoch stellt er als unfehlbar dar. 

Immerhin hinterfragt er konsequent alle Autoritäten und Eliten. Auch die vorher Unantastbaren.

Wir müssen echte Skepsis unterscheiden von Pseudo-Skepsis. Zu echter Skepsis gehört Demut, ein ernstes Hinterfragen der eigenen Position. Die Pseudo-Skepsis ist blind für die eigenen Konstruktionen. Sie stellt nur die anderen in Frage. Diese dafür umso mehr. 

Welche Botschaft sendet Trump mit seinen Lügen aus?

Die erste geht an seine Gegner. Sie lautet: „Eure Spielregeln interessieren mich nicht.“ Die zweite geht an seine Anhänger. Sie besagt: „Ich bin stark, furchtlos.“ Im Grunde genommen inszeniert er sich – unabhängig von Inhalten und konkreter Politik – permanent als einsamer Held und unerschrockener Meister der Metakommunikation: „Seht her, was ich mich alles traue!“

Der US-Historiker Timothy Snyder hat über Trump gesagt: „Post-Truth is Pre-fascism.“ Führt uns ein Angriff auf die Wahrheit an sich geradewegs in den Faschismus? 

Nein. Und das Problem von Trump ist doch eher ein ideologischer Narzissmus im Verbund mit brutaler Machtpolitik. Die Post-Truth-Behauptung und die Annahme, wir lebten in postfaktischen Zeiten, scheint mir zu pauschal. Sie übersieht: Natürlich ist Wahrheit heute umkämpfter denn je, aber die Epoche der reinen Fakten und der unumstrittenen Gewissheiten gab es nie. Man muss stets darüber streiten und diskutieren, was stimmt.

„Wir alle fürchten uns davor, dass der verhasste Feind uns doch sehr nahe ist“

Hat der aggressive Populismus da nicht einen Sechs-Tore-Vorsprung? Weil er, während alle gemäßigten Kräfte noch suchen und diskutieren und abwägen, schon längst mit absoluten, einfachen Wahrheiten hausieren geht?

Ich glaube, man darf sich als Gegner des aggressiven Populismus nicht in die Dauer-Abwägung flüchten. Manchmal mag es geboten sein, in einer Debatte klar und deutlich auf der eigenen Wahrheit zu bestehen. Und manchmal mag konstruktivistischer Totalzweifel geboten sein. Man braucht, je nach Anlass, beide Positionen.

Wie geht das?

Mir ist dies am Beispiel einer Geschichte deutlich geworden, die der Kulturkritiker Ivan Illich einmal erzählt hat. Er hatte einen Tumor an der Backe, den er nicht operieren lassen wollte. Eines Tages saß er in einem Flugzeug, und sein Sitznachbar, ein Chirurg, zeichnete plötzlich mit seinem Finger den nötigen Schnitt auf Illichs Gesicht. Ohne ihn zu fragen. Illich war empört ob dieses Übergriffs. Kurz darauf war er bei einer Familie zu Gast, und deren vierjährige Junge sagte: „Oh, du hast aber eine schöne Kussbacke.“

Er wusste einfach noch nicht, dass diese Kussbacke den Tod bedeutete.

Und jetzt können wir uns immer wieder neu entscheiden, mit wem wir uns verbünden wollen: Mit dem Chirurgen? Oder dem Jungen? Wir müssen nicht immer konsequent einer von beiden sein. Manchmal mag die liebevolle, „blinde“ Zuwendung die angemessene sein. Manchmal die pragmatische Ehrlichkeit. Wir müssen wählen.

Was heißt das konkret?

Erstens muss man die andere Wirklichkeit zu verstehen versuchen. Zweitens gilt es sich fragen: Kann ich die Motive dahinter nachvollziehen, also Verständnis zeigen? Und der dritte Schritt ist: Bin ich einverstanden? Also mag ich die Welt, die so entsteht? Oder lehne ich sie ab? 

Mich ärgert, dass viele Menschen den Versuch an sich verurteilen, zum Beispiel Rechte zu verstehen. Die Leute fürchten, sie würden den Verschwörungstheoretikern damit Recht geben, sich mit ihnen gemein machen. 

Vielleicht, weil sie fürchten, ihnen bei genauerem Hinsehen doch ähnlicher zu sein, als ihnen gefällt. Davor fürchten wir uns doch alle: Dass der verhasste Feind uns am Ende doch sehr nahe ist, wir deshalb nicht so gut sind, wie wir dachten und unsere Wirklichkeit nicht so einzigartig und unantastbar erscheint. 

Welche Rolle spielen Medien bei alldem?

Medien konstruieren Wirklichkeit. Indem sie selektieren, fokussieren, zuspitzen. Das ist unvermeidlich, hier geht es um ein Maximum an Transparenz und Aufrichtigkeit. Und da heute jeder zum Sender geworden ist, stellen sich auch jedem die Fragen, die in einer anderen Zeit vor allem Medienmachern und Journalisten vorbehalten waren: Was ist eine seriöse Quelle? Wie ist eine Information zu mir gelangt? Warum glaube ich einem Medium und einem anderen nicht? Warum halte ich etwas für Fake News? 

Für wie gefährlich halten Sie diese sogenannten Fake News?

Sie sind gefährlich, aber sie wirken nur, wo der Boden ohnehin schon sehr fruchtbar für ihre Lügen ist. Und natürlich ist niemand immun dagegen, auf eine gefälschte Geschichte hereinzufallen, weil diese seinen Überzeugungen entspricht. Wie auch das Beispiel der Falschmeldung des angeblich verstorbenen Asylbewerbers von Berlin zeigt, das vor allem in linken Kreisen geteilt wurde. Im Extremfall gilt dann: Sage mir, was du für Fake News hältst, und ich sage dir, wer du bist, woran Du glaubst. 

Was also dagegen tun?

Es braucht Aufklärung jenseits von Belehrung. Und dazu gehört, dass man selbst sagt und möglichst transparent begründet, wie man zu seiner Wahrheit und Wirklichkeitsauffassung gelangt ist. 

Also muss man nicht immer wieder die eigene Wirklichkeit erklären, sondern eher, wie man zu ihr kommt?

Das wäre das Ziel. Es führt uns zurück zu den Urfragen des Konstruktivismus: Was siehst Du? Was sehe ich? Wie kann ich meine Sicht der Dinge begründen? Teilst Du die Basis des Arguments? Wie können wir uns verständigen? Solche Fragen helfen in unsicheren Zeiten und bei vorschnellen Antworten.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. In Kürze erscheint sein neues Buch „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“ im Hanser-Verlag.

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