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Warum tut ihr nichts?

Foto: ap/Tsering Topgyal

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Chaitali Wasnick hat langes, dunkles Haar und zarte Gesichtszüge. Sie ist 24 Jahre alt und arbeitet in der indischen Tech-Metropole Bangalore als Fotografin. An Silvester lief sie durch die Stadt, um die Atmosphäre des Jahreswechsels festzuhalten. Die Straßen waren voller Menschen, Wasnick müde und im Begriff, nach Hause zu gehen, als sie Hände auf ihren Brüsten spürte. Die junge Frau erschrak. Nach einem Augenblick der Lähmung begann sie auf den Mann einzuschlagen, ihn anzuschreien. Ein Dutzend Männer hielten sie zurück, um zu vermeiden, dass ihre Wut Schlimmeres anrichtete. Der Schuldige entkam.

Am nächsten Morgen schaute Wasnick in die Zeitung und las: "Massenbelästigung in Bangalore an der Silvesternacht". Was ihr geschehen war, hatten an diesem Abend dutzende Freuen erlebt. Augenzeugen berichten von Mobs aus hunderten von Männern, die Frauen begrapschten.

 Indien und sexuelle Belästigung, das ist nicht neu. Der Tod einer jungen Studentin nach einer brutalen Gruppenvergewaltigung im Dezember 2012 brachte die Alltäglichkeit massiver sexueller Gewalt im Land ans Licht. Er setzte aber auch etwas in Gang: Zum ersten Mal gingen Frauen und Männer gemeinsam auf die Straßen, um gegen die gesellschaftliche Akzeptanz von sexueller Gewalt zu kämpfen. Eine Revolution kündigte sich an. Seit den Silvesterübergriffen fragen sich nun viele: Hat das Land doch nichts dazugelernt? Wie sicher ist es dort wirklich?

Seit ich ein kleines Kind war, reise ich nach Indien, dem Land meines Vaters. Erst zur Familie, später mit dem Rucksack von Nord nach Süd und von Ost nach West. Bis Dezember war ich dort außerdem als Journalistin unterwegs: für drei Monate durfte ich das Land über ein Stipendium auch arbeitend kennenlernen. Auf meinen Reisen habe ich unzählige intelligente, selbstbewusste und beeindruckende Frauen kennengelernt: Die Gründerin, die sich mit ihrem eigenen Startup in einer Männerwelt behauptet, die Journalistin, die alleine durch Indiens Dörfer reist oder die Wissenschaftlerin, die gegen Rassismus und für Frauenrechte kämpft. Meine eigene Familie hat ausschließlich starke und selbstbestimmte Frauen hervorgebracht. Dass andere in vielen Teilen der indischen Gesellschaft kaum etwas wert sind, habe ich lange nicht mal bemerkt.

Frauenabteil in Indien

Nur für sie eingerichtete Zugabteile sollen Frauen in Indien vor Übergriffen schützen.

Foto: Julia Wadhawan

In Großstädten wie Delhi oder Mumbai gingen wir abends in Bars und zum Tanzen in Hotelclubs. Meine Stipendiums-Kolleginnen waren überrascht, wie entspannt sie Indiens Metropolen erlebten, nach all den Horrornachrichten, die man so liest. Zur Journalistenschule, in der wir Unterricht in Landeskunde bekamen, fuhr ich mit dem Zug und fühlte mich sicher – allerdings im Frauenabteil. Die gibt es seit 2012 vermehrt. Und allein die Tatsache, dass ich wann immer möglich in diesen Bereich einstieg zeigt, wie sehr die Angst vor Übergriffen jede Frau in Indien täglich begleitet.

Das Schweigen ist gebrochen – teilweise

Meine Cousine ist 24 und lebt in Delhi. Sie fährt nicht mit der Metro oder dem Bus und selbst ein Uber würde sie nach acht oder neun Uhr abends niemals nehmen – zu gefährlich. Zu Ende gedacht, mündet das in nicht weniger als einer echten Freiheitsberaubung. Indische Zeitungen berichten täglich von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen auf Frauen, immer wieder machen auch grausame Gruppenvergewaltigungen Schlagzeilen.

In einem Vortrag über Gender-Themen fragten wir die Politikwissenschaftlerin Vasundhara Sirnate Drennan vom Hindu Centre for Politics and Public Policy: Ist Indien unsicherer geworden? Sie glaube nicht daran. Sexuelle Gewalt sei schon immer Alltag gewesen. Es gäbe auch keine belastbaren Daten, um das zu belegen. Laut Kriminalstatistik der indischen Regierung ist die Anzahl der Anzeigen wegen Übergriffen auf Frauen 2015 sogar gesunken – um fast sechs Prozent. Bis dahin war sie über 13 Jahre kontinuierlich gestiegen. Allerdings werden viele Fälle immer noch nicht gemeldet. Das liegt auch daran, dass der Täter dem Opfer in mehr als 95 Prozent bekannt war. 

Die größte Errungenschaft der aktuellen Anti-Vergewaltigungsbewegung, sagte Drennan, sei, dass ein bestimmter Teil der Gesellschaft das Unrecht nicht länger hinnehmen will. "Der Tod dieser Studentin hat Indiens Frauen sehr wütend gemacht." Nicht nur die junge Mittelschicht zog es auf die Straßen, auch Angehörige anderer sozialer Schichten vereinten sich im Kampf gegen das Unrecht. Zuerst in zentralen Protesten, später unorganisiert aber nicht weniger politisch. "Loitering", Englisch für "Abhängen", ist zur politischen Botschaft geworden. Unter dem Hashtag #whyloiter zeigen Frauen, wie sie zu angeblich unangemessenen Zeiten auf den Straßen indischer Städte herumstreunen. Sie fordern ihren Platz im öffentlichen Raum ein, der ihnen häufig verwehrt bleibt – weil es sich nicht ziert, weil es gefährlich dort ist.

Aber auch Gesetze wurden seit 2012 verschärft. Die Definition von Vergewaltigung wurde gesetzlich erweitert. Darunter fällt nun nicht mehr nur vaginaler Geschlechtsverkehr, sondern auch die Einführung von Gegenständen in andere Körperöffnungen. Für Serientäter und tödliche Übergriffe kann mittlerweile die Todesstrafe verhängt werden.

Voyeurismus, Stalking oder gewaltsame Entkleidung gelten als sexuell motivierte Straftaten. Polizisten, die die Anklagen von Frauen nicht ernstnehmen, können dafür jetzt belangt werden. Denn auch sie gelten als Teil des Problems – weil sie den Frauen die Schuld geben oder sexuelle Übergriffe verharmlosen.

 

Zusätzlich richtete die Polizei in Delhi eine Art Spezialeinheit von weiblichen Polizisten, an die sich Opfer häuslicher Gewalt wenden können. In den meisten Metros, vielen Zügen und Bussen gibt es mittlerweile Bereiche für Frauen. Taxi-Apps wie Ola oder Uber haben sogenannte "Panic-Buttons" in ihre Dienste eingebaut. In Delhi gibt es mittlerweile eine weibliche Busfahrerin.

Vielleicht fehlt es an männlichen Vorbildern

 

So wichtig diese Maßnahmen auch sind, die Ursachen des Problems, nämlich dass Frauen in der gesellschaftlichen Tradition des Landes weniger wert sind als Männer, bekämpfen sie nicht.

 

Als ich meine indische Sim-Karte registrieren lassen wollte, fragte mich der Zuständige nach dem Namen meines Ehemanns. Ich sagte ihm, dass ich nicht verheiratet sei. "Ok, dann der Name ihres Vaters." Ohne einen Mann – ob Vater, Bruder oder Partner – ist eine Frau im traditionellen Indien offenbar kein eigenständiger Mensch. Sie ist eine Bürde. Weil sie bei ihrer Hochzeit Geld kostet (obwohl offiziell verboten), weil sie dann zur Familie des Sohnes zieht und ihre Arbeitskraft entfällt. Wenn sie ihre Periode haben, sind sie unrein. Sie dürfen dann kein Essen zubereiten, Tempel betreten und sich manchmal nicht mal im selben Haus aufhalten.

 

Diese Ungleichheit sitzt tief. Während Frauen sich zunehmend zur Wehr setzen, halten sich viele Männer an ihrer Macht fest. Wie stark das noch verankert ist, merkte ich persönlich bei einer Sightseeingtour durch Neu Delhi.

 

Gleich am Anfang kam unser Stadtführer auf die Sicherheitssituation zu sprechen. Delhi, sagte er, werde ja seit dem Vorfall 2012 als gefährliche Stadt verunglimpft. Der Fall sei schlicht falsch dargelegt worden, erklärte er uns. Die Studentin, um die es ging, sei betrunken gewesen und habe den Busfahrer geschlagen. Im Nachhinein schien mir die Naivität, mit der er einer Gruppe von sieben Frauen (und einem Mann) aus einem der freizügigsten Länder der Welt, erzählen wollte, dass das Mädchen quasi selbst Schuld war, einfach nur dumm – und lehrreich. Es zeigte uns die Unverfrorenheit, mit der viele indische Männer an die Schuld der Opfer und ihre eigene Tugendhaftigkeit glauben.

 

Vielleicht fehlt es in Indien auch an geeigneten Vorbildern für Männer. Politiker verharmlosen sexuelle Übergriffe, wollen Frauen züchtigen, statt Männer zu ändern. Nach den Bangalore-Vorfällen sagte der Innenminister des Bundesstaats Karnataka: "(Die Jugendlichen) versuchen, die westliche Kultur nachzumachen, nicht nur in ihren Köpfen, sondern auch in der Art, wie sie sich kleiden... manche Mädchen werden dann belästigt, so etwas passiert." 

 

Der Politiker Mulayam Singh Yadav rechtfertigte das Verhalten mit den unabänderlichen Charakterzügen eines Mannes: "Jungs bleiben Jungs" und "Sie machen Fehler", sagte er. "Der untergeordnete Status von Frauen wird bei uns kulturell nicht nur gebilligt, er ist erwünscht", hat die Juristin Vrinda Grover mal gesagt. Auch Ärzte, Richter und Polizisten gelten häufig als Teil dieses Systems. Alle Gesetze der Welt werden nichts ändern, wenn jene, die sie durchführen nicht daran glauben.

 

Eine ganze Gesellschaft muss sich ändern – das dauert

 

Frauenrechtlerinnen fordern daher immer wieder effektiveren Rechtsschutz, schnellere Verfahren, härtere Strafen. Einer der sechs Täter, die sich am 16. Dezember an der Studentin Jyoti Singh Pandey vergingen, ist wieder auf freiem Fuß, weil er zur Tatzeit minderjährig war. Vier weitere wurden zwar zu Tode verurteilt, haben aber Berufung eingelegt. Nur einer zeigte Reue – allerdings erhängte er sich in kurz darauf in seiner Zelle.

 

Für echten gesellschaftlichen Wandel muss man sowieso ganz unten ansetzen: mit Erziehung – und Bildung. Die Regierung hielt daher 2013 alle Staaten an, "Gender Sensitization" – die Sensibilisierung für Geschlechterrollen – in die Lehrpläne zu integrieren. Eine eigene Taskforce sollte Module entwickeln, die landesweit übernommen werden können. Dazu aber muss auch Sexualität enttabuisiert werden. Das ist keine leichte Aufgabe in einem derart verklemmten Land, in dem Kinobesucher zum Teil aufgeregt jubeln, wenn die Protagonisten im Film Händchenhalten. Ein Kuss? Lange undenkbar.

 

Meine Tante betreibt seit mehreren Jahrzehnten eine Schule im westindischen Bundesstaat Gujarat. Rund 1200 Schüler besuchen dort die erste bis zehnte Klasse. Sexuell aufgeklärt werden die Kinder aber dort erst seit zwei Jahren. Sexualität wird in indischen Schulen zunehmend ernst genommen. Aber: Die Schulen stehen da noch ganz am Anfang.

 

Zuhause bleibt Sexualität oft weiter ein Tabu. Damit Kinder gerechte Geschlechterrollen und den Wert jedes Menschen erlernen, müssen allen voran Eltern und Gemeinschaft daran glauben. Kurz: Eine ganze Gesellschaft muss sich ändern – und das geht eben nicht so schnell.

 

Rund 70 Prozent der indischen Bevölkerung lebt auf dem Land, in kleinen Gemeinschaften und Dörfern, in denen häufig eigene Gesetze gelten. Und auch in den Städten löst man ein jahrhundertealtes Patriarchat nicht in vier Jahren durch Hashtag-Fluten und Demonstrationen auf. In Deutschland ist es immerhin 40 Jahre her, dass Frauen erstmals ohne Einverständnis ihres Ehemanns arbeiten durften – und wir kämpfen immer noch um gleiche Löhne und gegen gläserne Decken. Ich will nichts schönreden. Nur: Wandel braucht seine Zeit – und seine Kämpfer. Und die stehen gerade erst am Anfang.

 

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