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Die Nachteile des Spannens

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Illustration: karen-ernst Es gibt viele Arten, wie man es sich in seiner Wohnung bequem machen kann. Man kann die Wände in seiner Lieblingsfarbe streichen, wie in Vorabendserien tausende von Kerzen anzünden, um eine romantische Stimmung zu erzeugen oder alles von Innenarchitekten nach deren Geschmack einrichten lassen. Man kann die Heizung immer für wohlige Wärme sorgen lassen, kann sich bequeme Kleidung anziehen oder aber man verzichtet völlig auf jede Art von Kleidung, entblättert seinen Körper, sobald man die Türschwelle übertreten hat und verbringt nackt und so wie man geboren wurde den Rest seines Tages. Beispiele für die Freikörperkultur innerhalb der eigenen vier Wände, findet man – in Berlin jedenfalls – zuhauf. Am besten, man bezieht eine Wohnung mit Blick in einem Hinterhof. Meine Beobachtungen der letzten beiden Tage: 3:07 Uhr a.m., Standort: 4. Etage, Fenster zum Hof: Im Fernseher laufen nur noch Anrufshows und beim DSF „Sexy Clips“. Stehe am Fenster, rauche, schaue in den Innenhof und gucke, wer noch so alles wach ist und über erleuchtete Fenster verfügt, als es passiert. Zweiter Stock, schräg gegenüber, ein etwas unförmiger junger Mann kommt in sein Schlafzimmer, setzt sich aufs Bett, zieht sich die Hose aus, steht nochmals auf, setzt sich wieder, deckt seinen Leib dann aber doch wieder zu. Will nicht hinschauen, muss aber. Fühle mich wie jemand, der ganz langsam am Rettungshubschrauber auf der Autobahn vorbei fährt, um noch einen guten Blick auf das komatöse Verkehrsopfer zu erhaschen. Im Schockzustand vergesse ich das Abaschen, gehe verwirrt ins Bett, ziehe meine Vorhänge zu. Nächster Tag. 19:23 Uhr, derselbe Standort: Hatte das gestrige Ereignis beinahe schon wieder vergessen. Diesmal dritter Stock. Ein anderer Mann, den ich nur an seinem Computer sitzend kenne. Bislang habe ich nur seinen Oberkörper gesehen, hatte auch nie das Verlangen, Bekanntschaft mit seinem Unterkörper zu machen. Bis heute hatte er den Status eines Nachrichtensprechers, doch dann erhebt er sich. Erschaudere kurz, er trägt ein schwarzes Nichts, andere würden es T-Shirt nennen. Ein Oberbekleidungsstück. Unterbekleidung: Fehlanzeige. Kann gerade wieder atmen, als er zum nächsten Schlag ausholt. Er besteigt die frontal mir zugewandte Leiter zu seinem Hochbett, beläßt ein Bein auf der zweituntersten Sprosse, hebt das andere auf die dritte und damit auch sein knappes T-Shirt, wühlt minutenlang in seinem Bettzeug. Schließe meinen Vorhang und beschließe, nie wieder aus dem Fenster zu schauen. Später fällt es mir schwer, einzuschlafen. Tausend Fragen schwirren im Kopf umher. Warum ist mir das in anderen Städten noch nie aufgefallen? Läuft man nur in Berlin nackt durch seine Wohnung? Geht er so auch zur Tür, wenn jetzt plötzlich Besuch vor der Tür steht? Hat sein Schreibtischstuhl einen Schonbezug? Weiß er, dass auch andere Leute im Haus wohnen? Wenn ja, warum zeigt er sich nackt vorm beleuchteten Fenster? Warum ist er keine schön anzuschauende Frau? Kann er nicht auf dem Boden zum Bett robben? Warum glotze ich beim Rauchen in fremde Wohnungen? Das WM-Maskottchen im Meeting Sicher, es gibt schon einige Vorteile, wenn man nackt in der Wohnung umherläuft. Als Paar kann man schneller zum Sex kommen, man schwitzt im Sommer nicht so und wenn man sich etwas in der Pfanne brät, dann hat man danach sicher keine hässlichen Fettspritzer auf dem T-Shirt. Aber ist es ein kürzeres Vorspiel, weniger Transpiration und juckende Brandnarben wert, sich von wildfremden Leuten nackt zu zeigen. Die folgenden Nächte träume ich von Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen, Vorgesetzten und Verkäufern, die mir beim Einkaufen, auf der Straße oder im Büro lächelnd und untenrum nackt wie Goleo, das WM-Maskottchen „Hallo!“ sagen, mich nur in Oberbekleidung in Meetings bitten oder mir einen Döner „ohne alles“ und „mit ohne scharf“ anreichen. Schließlich reicht es mir und ich ergreife zeitlich begrenzt eine radikale Gegenmaßnahme. Ab heute wird zurückgeschossen, bildlich gesprochen und ich beschließe, mich eine Woche lang nur noch nackt am Fenster zu zeigen.

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