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„Ich wollte nicht unfreundlich sein“

Illustration: Dnaiela Rudolf-Lübke

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Als Annika* ihr Tinderdate zum ersten Mal im echten Leben traf, stand für sie fest, dass sie keinen Sex mit diesem Mann haben wollte. Wider Erwarten – denn seit Wochen lief der Nachrichtenaustausch gut. So gut, dass Annika bei ihrem Tinderdate übernachten wollte und ihre Zahnbürste in der Tasche hatte. Aber als sie ihm gegenüberstand, fand sie den Gedanken an Sex abstoßend. Trotzdem redete sie sich gut zu, dass die Stimmung ja noch umschwenken könne. Irgendwann landeten die beiden bei ihm zu Hause. „Ich wollte nicht unfreundlich sein“, erklärt sich Annika das heute. „Ich habe mich irgendwie verpflichtet gefühlt, weil die Übernachtung schon fix eingeplant war.“

Annika hatte also Sex mit ihm. Genauer: Verlegenheitssex. Sex, den man nicht so wirklich will, aber dennoch nicht ablehnt – sozusagen das gefühlte Nein und das verbalisierte Ja. In den vergangenen Jahren teilten viele junge Frauen solche Erfahrungen in sozialen Medien und Internetforen. Ein Auslöser dafür war Kristen Roupenians Kurzgeschichte „Cat Person“, die 2017 im New Yorker erschien. Die Studentin Margot trifft sich darin mit dem etwas älteren Robert. Nach einem Date haben die beiden auch Sex, den Margot zwar nicht möchte, dem sie aber dennoch zustimmt. Zwei Jahre später beschrieb die deutsche Autorin Caroline Rosales in ihrem autobiografischen Buch „Sexuell verfügbar“ eine ähnliche Erfahrung. 

Woran liegt es, dass Frauen sich anscheinend oftmals auf Sex einlassen, den sie eigentlich nicht wollen? Und an wem liegt es, das zu ändern?

Aline Halhuber-Ahlmann ist Politologin und Geschäftsführerin des Frauengesundheitszentrums Salzburg, das Frauen und Mädchen zu Themen rund um Sexualität, Gesundheit und Frauenpolitik informiert. Sie erklärt sich Verlegenheitssex so: „Wir Frauen werden oft Opfer unserer Erziehung: Wir fühlen uns besonders stark für das Wohlbefinden unseres Umfeldes verantwortlich. Denn Frauen werden als soziale, einfühlsame und hilfsbereite Wesen erzogen. Viele von uns sind stolz, wenn sie Wünsche anderer erahnen.“ Dieses Verhalten bringe Frauen manchmal in Situationen, in denen sie über die eigenen Bedürfnisse hinweggehen. Vielleicht erklärt das auch, warum einige Frauen auch dann noch vaginalen oder analen Sex haben, wenn sie dabei Schmerzen empfinden

Vielen Frauen fällt es laut Halhuber-Ahlmann außerdem schwer, den Sex abzulehnen, wenn sie und ihr Gegenüber sich bereits geküsst oder intime Berührungen ausgetauscht haben. „Sie fürchten, den Mann damit zu kränken oder sogar aggressiv zu machen. Sie halten es für einfacher, ja zu sagen.“ 

„Also hab ich mich betrunken und mir gedacht: Okay, du musst heute Sex haben“

Victoria hatte mehrmals Sex, den sie so eigentlich nicht wollte – mit ihrem damaligen Freund, kurz vor der Trennung. Sowohl sexuell als auch emotional fühlte sie sich ihm zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nahe. „Weil er ja mein Freund war, hatten wir Sex. Ich wollte ihn nicht verletzen“, erzählt sie. Heute kommt sie zu dem Schluss, dass sie das nicht hätte tun sollen: „Ich habe mich ihm ja damals sozusagen unterworfen.“ Mittlerweile hat Annika sich verziehen, nicht nein gesagt zu haben. Ein Rest an Misstrauen ist aber geblieben: Gegenüber sich selbst und gegenüber Männern. Neben einem Mann im Bett kann sie bis heute nicht durchschlafen. Und beim Sex versucht sie immer, selbst die Initiative zu ergreifen und dem Gegenüber zuvorzukommen. „Ich möchte nie wieder in so eine Drucksituation kommen“, sagt sie.

Und auch Mona, die im echten Leben anders heißt, hat sich auf Sex eingelassen, „weil das Ja einfacher als das Nein war“, wie sie später sagt. Der Mann, den sie erst an diesem Abend zum dritten Mal traf, lud sie zu einem teuren Geburtstagsessen ein. Das Date fand, für Mona überraschend, in einem Nobelrestaurant statt, einem von jenen, in denen jeder Gang mit einem eigenen Wein begleitet wird. Die Rechnung betrug am Ende mehrere Hundert Euro. Mona fühlte sich in eine Abhängigkeitssituation gebracht. Selber bezahlen konnte sie ihren Teil der Rechnung nicht. „Also hab ich mich betrunken und mir gedacht: Okay, du musst heute Sex haben“, erzählt sie heute. „Das fühlte sich wie die einzige Möglichkeit an, mich bei ihm zu revanchieren.“

Oft machen sich Frauen wie Mona noch lange Vorwürfe, nachgegegeben zu haben – eine Mitschuld bei ihrem Partner oder Date sehen sie dagegen selten. Dabei tragen die mindestens genauso viel Verantwortung dafür, dass Sex immer einvernehmlich geschieht. „Männer sollten sich der Zustimmung zum Sex immer wieder zu versichern – besonders dann, wenn es sich um einen One-Night-Stand oder ein erstes Date handelt“, sagt Halhuber-Ahlmann. „Der Mann sollte immer mal wieder nachfragen, ob das, was man gerade macht, noch in Ordnung ist.“ Durch das Nachfragen könnten Frauen innehalten und das eigene Empfinden überprüfen.

Spätestens, wenn ein Partner oder eine Partnerin beim Sex Ekel empfindet, wird es problematisch

Grundvoraussetzung dafür, dass das dann auch hilft, sei allerdings, dass Frauen sich über ihre Bedürfnisse klar werden. „In Gesprächsrunden und bei Vorträgen beobachte ich eine große Diskrepanz zwischen technischem Wissen und der Kenntnis über die eigenen Bedürfnisse. Viele Frauen können nicht genau sagen, was ihnen beim Sex gefällt.“ Kommt es zum Geschlechtsverkehr, können Frauen ihren Standpunkt aber eben nur vertreten, wenn sie diesen auch kennen: „Will ich Sex, Analsex, Oralsex? Ist Kondom für mich ein Muss? Wenn ich diese Fragen vorher für mich abgeklärt habe, kann ich das dem Partner auch besser kommunizieren.“

In langjährigen Beziehungen kommt häufig ein Phänomen auf: „Manchmal willigt man auch zu Sex ein, obwohl man nicht unbedingt Lust darauf hat. Man will dem Partner aber einen Gefallen tun“, sagt Halhuber-Ahlmann. In der Ehe diene Sex darüber hinaus auch oft dem Beziehungserhalt. Zu groß sei bei vielen Paaren die Sorge, dass sie das Konzept der Monogamie sonst nicht mehr leben könnten. 

Die Frage, die sich für Halhuber-Ahlmann in diesem Kontext aber stellt, ist, wie dieses Nicht-Wollen und die Unlust bewertet werden. Manchmal könne man sich als Paar ja auch von der Lust des oder der anderen überzeugen lassen, das nimmt sie als unproblematisch war. Spätestens, wenn ein Partner oder eine Partnerin Ekel empfindet, sei es aber problematisch, das zu ignorieren. Frauen rät Halhuber-Ahlmann deshalb, zu lernen, den seelischen Ekel zu erkennen – und auf ihn zu hören: „Manchmal probieren wir aus Interesse kurz und verneinen dann.“ Und das ist in Ordnung.

*Namen von der Redaktion geändert.

 

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