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Sexualkunde für Geflüchtete
Selbstbefriedigung ist schädlich. Sie verursacht Rückenschmerzen, strapaziert die Beine und man bekommt davon eine Sehschwäche. Wahrscheinlich kann man keine Kinder mehr zeugen, wahrscheinlich werden die Kinder behindert: Das alles glaubt Faruk (Name von der Redaktion geändert). „Aber“, räumt er diplomatisch ein, „es kann sein, dass es für Österreicher anders ist.“
Faruk ist mutig. Mit rotem Kopf und ganz ins Eck der Couch gedrückt redet der 17-jährige Afghane mit mir, einer jungen Frau, über Sexualität. Zwischen Boxsack und Hantelbank sitzen wir uns im Freizeitkeller der Flüchtlingsunterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gegenüber – kurz „UMFs“ genannt. Und wir haben noch dazu Publikum: Der Fotograf ist anwesend, der Dolmetscher natürlich auch und Dagmar Welte nimmt Teil, die Leiterin des „Haus Jonas“ im österreichischen Vorarlberg, die auf ihren Schützling aufpasst.
Faruk ist der Einzige der dort untergebrachten 29 männlichen Jugendlichen, der sich zu einem Interview über Sex bereit erklärt hat. Dass es ihm unangenehm ist, versteht sich von selbst. Er schwitzt. Zudem ist Ramadan und draußen herrschen Temperaturen von 34 Grad. Aber er ist auch neugierig. „Was willst du wissen?“, fragt er mich grinsend und herausfordernd. Nun, vieles. Allerdings wird mir Navid, der Dolmetscher, nach dem Interview zu verstehen geben, dass Faruk nicht immer ehrlich sein konnte. Sexualität ist in Afghanistan total tabuisiert. Darüber zu reden ist schandhaft. „Um Himmels Willen“, hatte Faruk gerufen, als ich ihn fragte, ob er mit Freunden über Sex reden würde, „natürlich nicht!“ Das Gegenteil kann er schwer zugeben. Die Scham ist zu groß – vor allem in Anwesenheit einer Frau.
„Wenn ich als Jugendlicher an einem Plakat mit einer halbnackten Frau vorbeifuhr, schämte ich mich in Grund und Boden.“
An die erdrückende Scham erinnert sich auch der junge Dolmetscher Navid selbst zu gut. Er war vierzehn, als er aus Afghanistan nach Österreich kam. Heute ist Navid 27, studiert Softwareentwicklung und Wirtschaft, arbeitet nebenbei als Dolmetscher in den Sprachen Dari/Farsi, Paschtu und Urdu. „Wenn ich damals als Jugendlicher mit meinen Schwestern im Bus saß und wir an einem Plakat mit einer halbnackten Frau vorbeifuhren, dann habe ich mich in Grund und Boden geschämt.“ Heute steht Navid dem Thema bewusst offen gegenüber. Er ist einer jener zwei Dolmetscher, die bei dem Pilotprojekt der Caritas Vorarlberg und dem Ehe- und Familienzentrum der Diözese Feldkirch übersetzen: den verpflichtenden, sexualpädagogischen Workshops für die männlichen „UMFs“.
Navid stammt selbst aus Afghanistan, er besitzt selbst Fluchterfahrung und er ist ein junger Mann – genau deswegen ist er für die Rolle des Dolmetschers so geeignet, erklärt mir Cornelia Neuhauser von der Flüchtlingshilfe der Caritas Vorarlberg. „Denn der Erfolg steht und fällt mit den Dolmetschern.“
Neuhauser hatte mir am Telefon von dem Projekt erzählt. Aus Eigeninitiative, also ohne Auftrag des Landes, hat die Organisation entschieden, für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sogenannte sexualpädagogische Workshops einzuführen – und zwar verpflichtend. „Unsere Erfahrungen zeigen, dass sich der Wissensstand der Jugendlichen zu diesem Thema bei null befindet, es gibt kaum bis gar kein Bewusstsein über die eigene Geschlechtlichkeit und die eigene Anatomie. Ein über alle Maßen tabuisiertes Thema in dieser Zielgruppe, ein Tabu, das wir durchbrechen müssen, wollen wir die Integration erfolgreich bewältigen!“, so Neuhauser. Sie sieht eine große Verantwortung zur sexuellen Aufklärung der Jugendlichen und eine „Verantwortung unserer Gesellschaft“ gegenüber – was die Vermeidung von Übergriffen betrifft ebenso wie gesundheitliche Aspekte.
Mit der Aufklärung der geflüchteten Mädchen ist es da leider schwieriger. Da haben Caritas und Co viel schwereren Zugriff. Neuhauser sagt: „Die Mädchen verschwinden im Familienkontext. Sobald sie nicht mehr schulpflichtig sind. Also mit 16 Jahren. Die Eltern lassen sie oft nicht mehr raus, sie werden jung verheiratet und sind stets in Begleitung von Bruder oder Vater. Und die Erlaubnis, sexualpädagogische Workshops besuchen zu dürfen, wird kaum erteilt.“
„Die Jungen wissen nicht, dass eine Erektion eine Erektion ist.“
Ich möchte von Faruk wissen, ob er den Sexual-Workshop einem Freund empfehlen würde. „Unbedingt“, sagt er. „Jeder sollte diesen Kurs besuchen.“ Für ihn war besonders das Modell des weiblichen Geschlechtsorgans von Interesse. Weil es so bildhaft ist. In seiner Heimatstadt in Afghanistan sei er zwar in Fortpflanzungsbiologie unterrichtet worden, aber ganz anders – oberflächlich. „Wie ein Kind entsteht, wie es zur Befruchtung kommt“, all das erfuhr Faruk so richtig erst vor ein paar Monaten hier in Vorarlberg, kurz vor seinem 18. Geburtstag
Doch nicht alle Gefüchteten aus muslimisch geprägten Ländern sind gleich. Man muss unterscheiden, sagt Neuhauser, „Es gibt einen eindeutigen Unterschied, vor allem zwischen Syrern und Afghanen. In Vorarlberg haben wir hauptsächlich Jugendliche aus Afghanistan, viele aus sehr ländlichen Gegenden und mit geringem Bildungsstand. Sie sind zum Teil Primär-Analphabeten, das heißt sie wurden auch in ihrer Heimat nicht alphabetisiert. Viele Syrer hingegen können neben Arabisch sogar Lateinisch lesen und schreiben.“ Dieser Bildungsunterschied spiegelt sich im Wissen um Sexualität wider. I
Im „Haus Jonas“ in Vorarlberg sind ausschließlich junge Männer aus Afghanistan untergebracht, zwischen 15 und 18 Jahre alt. „Weil im Alltag Sexualität so ein tabuisiertes Thema ist, haben sie keine Ahnung von ihrem eigenen Körper.“ Geschweige denn von dem des anderen Geschlechts. „Sie wissen nicht, dass eine Erektion eine Erektion ist. Sie haben keine Ahnung von Menstruation, Samenerguss, ja, wie eine Frau schwanger wird.“
„Viele wissen nicht einmal, wie Kinder entstehen."
Dass sie aber gerade der eigene Körper beschäftigt, bestätigt das große Interesse am Thema Selbstbefriedigung. So erzählt Günter Schedler, der Sexualpädagoge und Trainer der Workshops, den wir am Abend vorher in Bregenz treffen, dass die Jugendlichen hierzu die meisten Fragen stellen. „Sie haben Angst, dass Selbstbefriedigung schädlich ist und sie schauen mich ungläubig an, wenn ich ihnen sage, dass es nicht so ist, sondern im Gegenteil sogar gesund ist.“
Schedler ist 53, Gymnasiallehrer für Kunst und Werkerziehung, er arbeitet seit 18 Jahren nebenberuflich als Sexualpädagoge und Supervisor bei Sexualthemen. Die Arbeit mit Flüchtlingen ist für ihn allerdings relativ neu. Er ist sich bewusst, dass er es hier mit einer Zielgruppe mit besonderen Belastungen zu tun hat, mit jungen Männern, die traumatisiert sind und die Erfahrungen auf der Flucht gesammelt haben, über die sie nicht reden können. Auch sexuelle. Gleichzeitig bestätigt er: „Sie wissen oft nicht, wie Kinder entstehen! Selbstbefriedigung, Homosexualität, überhaupt Sex sind große Tabus.“ Österreichische junge Männer würden sich in dem Alter viel besser auskennen, „weil wir hier viel offener untereinander reden."
Auch Navid, der junge Dolmetscher, weiß das. „Wenn jemand von etwas überzeugt ist, gerade auch religiös, dann entsteht ein Gewissenskonflikt“, erklärt er. Für die Jugendlichen ist das schwer zu lösen. Das lockere Klima, der Humor, die Offenheit in den Workshops helfen da natürlich. Schedler ist es in seinem Unterricht wichtig, nicht zu beurteilen. Das Lehrmotto lautet: „vergleichen und gegenüberstellen“, das heißt wechselseitig zur Kenntnis zu nehmen, dass Gesetze, Kultur und Praxis in der alten und neuen Heimat anders sind, dass es in Österreich aber nun einmal so ist. Zum Beispiel, dass hier Homosexualität erlaubt ist – ein weiteres schwieriges Tabuthema. Homosexualität ist im Islam verboten. „Die Scham und Gefahr geächtet zu werden ist sehr groß bei den jungen Männern“, berichtet er. „Wobei schwul zu sein als aktiver Part irgendwo noch okay ist, aber nicht als passiver Part.“ Denn der passive Part ist auch immer der weibliche Part, daher die Abwertung. Womit wir beim nächsten Thema sind: Frauen.
"Die Partnerin sollte Jungfrau sein."
Im Gemeinschaftsraum frage ich Faruk, ob er eine Freundin hat. „Nein“, schüttelt er den Kopf. Ob er gern eine hätte? „Ja!“, nickt er errötend. „Und sollte sie Jungfrau sein?“ – „Ja!“ Warum? Die Antwort fällt länger aus. Es sei besser, weil eine Jungfrau in der afghanischen Kultur und Familie hoch angesehen ist. Weil Sex vor der Ehe im Islam verboten ist. „Hattest du denn schon einmal eine Freundin hier in Österreich?“, frage ich ihn. Faruk nickt lächelnd und beschämt zugleich. Höchstwahrscheinlich hatte er wohl auch Sex mit dieser Freundin. „Wer will die Freiheit nicht leben?!“, kontert er mir schließlich, als ich wissen will, wie er mit dem Kulturunterschied, mit den Möglichkeiten hier in Österreich umgeht. Welche Nationalität seine Freundin hatte, erfahre ich nicht. Aber seine Freunde im „Haus Jonas“ waren meistens mit Österreicherinnen zusammen. Oder mit Türkinnen. Eine afghanische Freundin hatte bisher keiner von ihnen.
Auch Schedler, der Sexualpädagoge, berichtet von dieser Aufteilung. „Natürlich wollen die jungen Männer sexuelle Erfahrungen sammeln. Aber die wollen sie mit österreichischen beziehungsweise europäischen Mädchen machen. Heiraten würden sie diese Frauen nicht.“ Das Thema Frauen interessiert in den Workshops mindestens so brennend wie das der Selbstbefriedigung. Wie spricht man eine Frau an? Wie beginnt man eine Beziehung? Wie ticken Frauen? Und natürlich wollen sie gute Liebhaber sein, so Schedler. „Am liebsten hätten sie eine Gebrauchsanweisung.“
So weit so normal, könnte man meinen, ist ja auch bei einheimischen Jugendlichen (beiden Geschlechts) nicht anders. Jedoch beschäftigt die geflüchteten Männer eine Frage zusätzlich und besonders: Wie kann man feststellen, dass eine Frau jungfräulich ist? „Sie möchten unbedingt eine Jungfrau“, erzählt Navid, der Dolmetscher. Und was antwortet ihr als Kursleiter darauf? „Wir sagen: Vertrauen haben.“ Das Hinterfragen dieses Wunsches steht also nicht im Raum, da es in den Workshops nicht um die Beurteilung von kulturellen Werten gehe.
„Wir erklären, dass Frauen bei uns im Bikini ‚normal‘ sind. Die Jugendlichen versuchen das anzunehmen.“
„Das Frauenbild ist seit der Kindheit geprägt und das kann man schwer in einem Jahr oder einem Kurs ändern“, so Schedler. Daher erklärt er ihnen, wie es in Österreich läuft und dass hier nicht die Religion vorschreibt, sondern sexuelle Selbstbestimmung gelebt wird. „Wir erklären, dass Frauen bei uns im Bikini ‚normal‘ sind. Dass sie nicht angegafft werden. Die Jugendlichen versuchen das anzunehmen. Aber oft sind die Frauen für sie trotzdem Huren und Schlampen.“
Was bewirken also Kurse wie die Sexual-Workshops in Vorarlberg? Faruk auf dem Sofa scheint einerseits froh, anhand des plüschigen Vaginamodells, das mehr einem Ikeapolster als einem Geschlechtsorgan gleicht, über die weiblichen Funktionen aufgeklärt worden zu sein. Aber was das Thema Selbstbefriedigung betrifft, bleibt er beharrlich – egal was Günter Schedler und Navid sagen. „Ich glaube ihnen nicht, dass es nicht schädlich ist.“ Er lächelt.
Wir verabschieden uns. Im Aufstehen fragt der Fotograf, der von Faruk kein Foto machen darf, wie es für den jungen Mann hier am Bodensee im Sommer ist. Mit all den leicht bekleideten Mädchen, jetzt vor allem auch im Bikini. Faruk schaut ernst. „Es ist schwer. Die Verführung ist immer da.“
*Unsere Redaktion kooperiert in unregelmäßigen Abständen mit biber – was wir bei JETZT ziemlich leiwand finden. Als einziges österreichisches Magazin berichtet biber direkt aus der multiethnischen Community heraus – und zeigt damit jene unbekannten, spannenden und scharfen Facetten Wiens, die bisher in keiner deutschsprachigen Zeitschrift zu sehen waren. biber lobt, attackiert, kritisiert, thematisiert. Denn biber ist "mit scharf". Für ihre Leserinnen und Leser ist biber nicht nur ein Nagetier. Es bedeutet auf türkisch "Pfefferoni" und auf serbokroatisch "Pfeffer" und hat so in allen Sprachen ihres Zielpublikums eine Bedeutung.
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