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Die Vulva ist in unserem Alltag angekommen

Illustration: Daniela Rudolf

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Plötzlich waren sie überall. Unter der Futterluke des Pizzaladens, neben dem Eingang zum Getränkemarkt, auf Mauern, Litfaßsäulen, Stromkästen – jede Ecke in meiner Straße hatte ihre eigene, lebensgroße Vulva bekommen. Irgendwer hatte sie über Nacht mit Hilfe einer Schablone aufgesprüht. Klar, die wütenden Hausbesitzer machten sich sofort daran, ihre Fassaden mit grimmigem Blick zu übermalen. Doch die kleinen, bunten Graffiti hatten es da bereits bis ins Internet und damit in die Ewigkeit geschafft.

Und sie sind nicht allein. Dem aufmerksamen Zeitgenossen wird kaum entgangen sein, dass Vulven und Klitorides (jep, so geht der Plural von „Klitoris”) in letzter Zeit auf allem Möglichem zu finden sind: Sie zieren nicht nur Hausfassaden, sondern auch Gehwege und Statuen. Außerdem Ketten, Sticker, Baumwollbeutel, ganze Label-Kollektionen und natürlich die Beine von Janelle Monáe . Manche Instagram-Accounts beschäftigen sich mit nichts anderem als mit aufgeschnittenen Grapefruits und Kartoffeln in Vulva-Form, und in London soll in absehbarer Zeit das erste Vagina-Museum  der Welt eröffnen (nicht zu verwechseln mit dem bereits existierenden virtuellen Vaginamuseum der österreichischen Künstlerin Kerstin Reinar. Seit Kurzem kommen sie auch in Form von sehr teuren Schals daher. Weibliche Geschlechtsteile, wohin man auch nur blickt und hört. „Drehen die Frauen denn nun völlig am Rad?”, fragt so manch eine kritische Stimme. „Müssen sie den Blick der Öffentlichkeit denn wirklich zwischen ihre Beine lenken? Ist schließlich eine intime Stelle.”

Die Antwort lautet: Ja, sie müssen. Nicht, weil Männer und Jungs schon immer ihre Penisse an Klotüren, Häuserwände und Spielplatzgerüste geschmiert haben, Frauen und Mädchen ihre Vulven jedoch nie. Oder weil jeder von uns einen einwandfreien Penis malen kann, aber die wenigsten eine Vulva hinbekommen. Nichtmal, weil wir bei so ziemlich jeder Gurke und jedem Hochhaus „Höhö, Phallus!” denken, eine Computermaus aber nie mit einer Vulva vergleichen würden. Nein, das alles sind nur Symptome eines tiefer liegenden Problems, das unsere Gesellschaft die längste Zeit mit dem weiblichen Geschlecht hatte.

Das war allerdings nicht immer so. Die Kulturhistorikerin Mithu M. Sanyal stellt in „Vulva – Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts” haufenweise Geschichten aus den verschiedensten Mythologien vor, in denen die Vulva die Menschheit rettet. „Es gab den festen Glauben, dass Frauen, indem sie ihre Röcke heben, Tote erwecken und sogar den Teufel besiegen konnten. Das weibliche Genital war ein heiliger und heilender Ort”, schreibt Sanyal. Kein Wunder, dass Frauendarstellungen aus prähistorischer Zeit meist mit überdimensionierten Vulven versehen sind. Doch mit dem Übergang ins Patriarchat und später dann zu einem männlich-monotheistischen Gott wandelte sich der Umgang mit dem weiblichen Geschlecht. Nun galten Frauen, die mit ihrer Fähigkeit, Kinder zu gebären, in direkter Konkurrenz zum Leben erschaffenden Gott standen, als sündig und schmutzig. Auf diese Weise wurde die Vulva „ (…) mit gewaltiger Anstrengung zuerst diffamiert und daraufhin verleugnet, bis zu der irrigen und irren Annahme, sie sei nicht der Rede wert”, so Sanyal.

Wer das jetzt übertrieben findet, muss nur ein bisschen in den Werken der einflussreichsten Denker der Welt herumblättern. Jean-Paul Sartre beispielsweise beschreibt das weibliche Sexualorgan in „Das Sein und das Nichts” als Loch, das danach ruft, ausgefüllt zu werden – und bewegt sich damit ganz auf einer Linie mit Sigmund Freud, der es vor allem als Leerstelle definiert. Und als die NASA im Jahr 1972 die Weltraumsonde Pioneer in den Kosmos schoss, auf der sie für den Fall einer Begegnung mit Außerirdischen einen Plakette mit der Abbildung von Menschen angebracht hatte, wurde der Mann mit einem vollständigen Geschlechtsteil zwischen den Beinen dargestellt. Die Frau aber: mit nichts.

Mit dem Ergebnis, dass die meisten von uns heute, wo wir angeblich so wahnsinnig gleichberechtigt und aufgeklärt sind, weder die korrekte Bezeichnung für das weibliche Genital kennen noch seine Anatomie . Und Frauen sich für ihre Vulven schämen – und überhaupt möglichst wenig von ihnen zu sehen sein sollte.

Verglichen mit dem omnipräsenten Penis ist das weibliche Geschlecht nach wie vor ein eher unsichtbares. Und wenn sich das jetzt langsam, gaaaanz langsam ändert, weil (Street-Art-)Künstlerinnen, Musikerinnen, Designerinnen und andere Menschen die Vulva zwecks Enttabuisierung in den öffentlichen Fokus rücken, dann ist das definitiv ein Grund zum hemmungslosen Feiern. Vielleicht zum Sound von Björks neuem Album „Utopia”? Auf dessen Cover ziert immerhin eine Vulva ihr Gesicht.

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