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Die Online-Plattform "Sex School" will junge Erwachsene aufklären
Es könnte einfach nur ein altmodisches Klassenzimmer sein: ein Lehrerpult, eine Tafel, ein Bücherschrank und Zimmerpflanzen. Wären da nicht die Peitschen, Gerten und Paddles an der Wand neben der Tafel, eine Taschenmuschi auf dem Pult und Dildos, Vibratoren und Analplugs im Schrank. Vor dem Lehrerpult sitzen zwei Männer und zwei Frauen auf Barhockern. Sie sprechen über Sex. Genauer: über einen Dreier. Was muss man beachten, damit es für alle schön wird? Was sind die Dos and Don’ts? Wie geht dabei Safer Sex, ohne dass es ein permanentes Kondom Auf- und Abziehen wird? Was der Zuschauer des Videos noch nicht weiß: Alles, was die vier gerade besprechen, werden sie gleich vor der Kamera auch zeigen. Die Darsteller werden auslosen, wer miteinander schlafen wird und die Person, die nicht mitmachen darf – schließlich geht es um einen Dreier und nicht um einen Vierer – wird mit einem augenzwinkernden „Ich mache es später wieder gut bei dir“ vertröstet. Dann wechselt die Szene in ein Schlafzimmer.
Die Männer und Frauen sind Sexarbeiter und Pornodarsteller. Lina Bembe, Sadie Lune, Parker Marx und Bishop Black sind die Performer von „Sex School“, einer neuen Online-Plattform für Aufklärungsfilme. Dahinter steckt ein Kollektiv aus Therapeuten, Coaches und Sexarbeitern, die in ihren Filmen verschiedene Themen rund um Sexualität verhandeln, wie beispielsweise Konsens, Gesundheit, Küssen, Dreier oder BDSM. Sie erklären, diskutieren und zeigen dann genau das, was sie zuvor besprochen haben. Zunächst klingt es vielleicht befremdlich, einem „Lehrer“ beim Sex zuzusehen. In Wahrheit ist es nur konsequent, weil das Gesagte dadurch weniger abstrakt wird. Die Videos sind keine Sexualerziehung im klassischen Sinne, auch, weil die Filme nicht jugendfrei sind. Die Zielgruppe ist zwischen 18 und 25 Jahren alt, sie hatte also meistens bereits Sex und wurde in der Schule aufgeklärt. Allerdings ist der Unterricht dort oft unzureichend. Und mit Menschen, mit denen man nicht über Sex reden möchte, über Sex reden zu müssen, sprengt alle Unangenehm-Maßstäbe und dennoch ist genau das das Konzept von Sexualkunde in der Schule.
Die Performer von „Sex School“ Bishop Black, Sadie Lune, Parker Marx und Lina Bembe (von links).
Das war auch für Kulturmanagerin Anarella Martínez-Madrid und Porno-Regisseurin Poppy Sanchez der Ausgangspunkt für die Idee für „Sex School“: Junge Menschen, die kaum oder nur sehr schlechten Aufklärungsunterricht in der Schule hatten, in dem eine sehr genaue Vorstellungen von „normalem“ Sex vermittelt wurde und sehr viele Dinge als Tabu galten.
„Konsens ist absolut kein neues Konzept und trotzdem ist erst mit der #metoo-Debatte deutlich geworden, dass es alles andere als offensichtlich ist“
Max Kutschenreuter ist Teil der alternativen Pornoszene in Berlin und hat gemeinsam mit Poppy Sanchez für „Sex School“ Regie geführt. In seiner Heimat, den Niederlanden, hat er an Schulen Aufklärungsunterricht gegeben und dabei gemerkt, dass man dort meist nur sehr praktische Dinge lernt – beispielsweise das klassische Kondom-über-eine-Banane-Ziehen. Das sei zwar total wichtig, aber gleichzeitig nur ein sehr kleiner Teil, den es über Sex zu wissen gibt. „Die Dinge, die den Jugendlichen nicht erklärt werden, probieren sie dann einfach selbst aus – das kann sehr schön und erfüllend sein, aber manchmal auch zu einem sehr ungesunden Verständnis von Sex und im schlimmsten Fall sogar zu traumatisierenden Erfahrungen führen“, sagt Max.
Die Aufklärungsvideos von „Sex School“ sind non-binär und weniger heteronormativ als klassische Sexualerziehung, bei der Homosexualität häufig nur im Kontext eines erhöhten HIV-Risikos thematisiert wird. Sie besprechen Themen, über die ansonsten kaum einer redet, wie beispielsweise Konsens beim Sex. „Konsens ist absolut kein neues Konzept und trotzdem ist erst mit der #metoo-Debatte deutlich geworden, dass es alles andere als offensichtlich oder allgemeingültig ist und das ist wiederum wahnsinnig beunruhigend“, sagt Max. In dem Video zu dem Thema sitzt Sadie Lune mit überschlagenen Beinen auf dem Lehrerpult des Klassenzimmers. Unter ihrem dunkelroten Kleid trägt sie eine Netzstrumpfhose, die von der Kamera immer wieder fokussiert wird. In ihrem Schoß liegt eine Art Schulheft, aus dem sie vorträgt: „Selbst ‚Nein heißt Nein‘ ist nicht so eindeutig, wie es scheint. Es gibt sehr viele Wege nicht ‚Ja‘ zu sagen, ohne jemals ‚Nein‘ gesagt zu haben.“ Sie führt ein paar Beispiele auf: „Oh, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.“ Sie spricht von einer veränderten Körperhaltungen, verschränkten Armen und Beinen oder einem unsicheren Blick. „Es ist deine Verantwortung einen Raum für andere Menschen zu schaffen, der zu Konsens einlädt“, sagt Sadie Lune. Es klingt nicht oberlehrerhaft, sondern sehr ehrlich und glaubhaft.
„Jugendliche werden Sex haben und wenn man das Thema ihnen gegenüber stigmatisiert, finden sie Pornhub oder andere Seiten im Internet und nehmen daher ihre Aufklärung“
Denn bei „Sex School“ sind es eben keine Lehrer, die schwitzend vor jungen Menschen stehen und versuchen, sie aufzuklären, sondern Menschen, die durch ihre Jobs sehr viel Erfahrung haben und den Unterschied zwischen Porno-Sex und dem Sex im echten Leben kennen. Darin liegt auch ein ganz grundsätzliches Problem der Sexualerziehung: Erwachsene erklären jungen Menschen nur das in ihren Augen Nötigste, weil es ihnen eigentlich am liebsten wäre, wenn diese überhaupt gar keinen Sex hätten. Das, was für die Jugendlichen eigentlich noch viel wichtiger ist, nämlich was Sex eigentlich bedeutet und wie er lustvoll und erfüllend sein kann, wird nicht besprochen. Die Jugendlichen suchen sich diese Informationen deshalb woanders. „Jugendliche werden Sex haben und wenn man das Thema ihnen gegenüber stigmatisiert, finden sie Pornhub oder andere Seiten im Internet und nehmen daher ihre Aufklärung“, sagt Max Kutschenreuter.
Max Kutschenreuter
Es ist problematisch, wenn Pornos zur Sexualerziehung werden, denn es gibt keine Anleitung, wie man Pornos gucken sollte, wie man das, was einem dort gezeigt wird, bewerten kann und inwiefern das von Sex im echten Leben abgekoppelt ist. Max nennt es „porn literacy“, also so etwas wie eine Porno-Kompetenz beziehungsweise das Bewusstsein dafür, was Pornos tatsächlich darstellen. „Es ist absolut okay, einen Fetisch oder eine sexuelle Fantasie zu haben und sich dann Pornos anzusehen, in denen diese gezeigt werden“, sagt Max, „aber es ist wichtig zu wissen, dass Pornos – gerade Mainstreampornos – genau das sind: eine Fantasie.“
Wenn Pornos nicht Teil der Sexualerziehung sind, wird Sexualerziehung eben Teil von Pornos
Das Genre der feministischen Pornografie – zu dem die Aufklärungsvideos von „Sex School“ zählen – steht im krassen Gegensatz zu Mainstreampornos, in denen unrealistische Schönheits- und Performanceideale dargestellt werden und Frauen meist ausschließlich als Lustobjekte für den „male gaze“ – den männlichen Blick – dienen. „Weder die Konzepte, die wir bei ‚Sex School‘ besprechen, noch die Idee, den Fokus auf sexuelle Lust zu legen, sind wirklich etwas Neues, aber dennoch ist das, was wir machen, sehr radikal, weil weder über das eine, noch über das andere in der klassischen Sexualerziehung gesprochen wird“, sagt Max. Auf ihrer Website, die sie in den nächsten Tagen launchen wollen, wird es neben Episoden, die jugendfrei sind, auch noch einen Podcast und Artikel zu verschiedenen Themen geben. Für einige der Inhalte wird man aber bezahlen müssen.
Diese neue Art der Aufklärung für eigentlich bereits aufgeklärte junge Menschen erscheint in einer Zeit, in der viel über Sex und Macht gesprochen wird, in der nicht nur Verunsicherung, sondern gleichzeitig auch eine krasse Ambivalenz gegenüber Sexualität herrscht: Das Internet ist voll mit frei zugänglichen, pornografischen Videos und Bildern – dennoch betreiben Unternehmen wie Facebook massive Zensur von vermeintlich sexualisierten Inhalten, beispielsweise von weiblichen Brustwarzen, nicht aber von männlichen. Vielleicht ist es aber genau diese Ambivalenz und der womöglich negative Einfluss von Pornografie auf junge Menschen, die dazu führen, dass es ausgerechnet Pornodarsteller sind, die als „Lehrer“ zeigen, was Sex bedeutet. Wenn Pornos nicht Teil der Sexualerziehung sind, wird Sexualerziehung eben Teil von Pornos.