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„In Berlin war ich plötzlich ein schwarzes Schaf unter vielen schwarzen Schafen“

Illustration: Daniela Rudolf-Lübke, jetzt

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Potente Machos und prüde Jungfrauen. Über arabische Männer und Frauen gibt es viele Vorurteile. In der Kolumne „Sex auf Arabisch“ reden sie über Geschlechterrollen, Liebe und Sex – und ihr Verhältnis zu Deutschland.

„Ich hätte in meinem Leben viermal sterben können und habe viermal überlebt. Zweimal während meiner Kindheit in Ägypten, zweimal in Deutschland. Beim ersten Mal wuchs ein Tumor in meinem Dickdarm, beim zweiten Mal überschlug sich unser Auto siebenmal. Später habe ich zweimal versucht, mich umzubringen. Ich habe sehr unter meinen Schicksalsschlägen gelitten. Bis ich nach Berlin zog und dort zu einem anderen Menschen geworden bin.

Meine Krankheit und der Autounfall waren der Grund, warum ich in meiner Jugend kaum mit Frauen geredet habe. Ich war acht Jahre alt, als der Tumor anfing zu wachsen. Damals lebte ich in Alexandria und niemand in meiner Familie sagte mir, dass ich Krebs hatte. Ich wusste nicht, warum ich drei Monate lang im Krankenhaus lag und mir dort die Haare ausfielen. Als ich fragte, warum es mir so schlecht gehe, sagten mir meine Eltern nur, dass alles gut sei. Aber ich wusste genau, dass das nicht stimmte.

„Als ich wieder aufwachte, war mein rechter Oberarm zerfetzt"

Irgendwann schlug die Chemotherapie an. Ich war wieder gesund geworden. Trotzdem zog ich mich in der Schule von meinen Klassenkameraden zurück. Mit dem Autounfall zwei Jahre später wurde dann alles noch schlimmer. Meine Mutter war von der Fahrspur abgekommen und das Auto hatte sich siebenmal überschlagen. Als ich wieder aufwachte, war mein rechter Oberarm zerfetzt. Alle Muskeln, die Nerven und die Haut waren zerstört. Im Krankenhaus nahmen die Ärzte die Haut meines Oberschenkels und transplantierten sie auf meinen Oberarm. Nach einem Jahr Physiotherapie war mein Arm zwar wieder halbwegs hergestellt, aber für immer von dem Unfall gezeichnet.

Mein vernarbter Arm quälte mich. Ich dachte, ich bin ein Monster. Also versteckte ich meinen Arm, denn ich wollte nicht, dass die Leute sich vor mir ekeln. Ich war mir sicher, dass die Mädchen in meiner Schule Angst vor mir hätten, wenn sie ihn sehen würden. Also vermied ich es, ihnen zu nahe zu kommen, oder gar mit ihnen zu reden. Bis zu meinem Schulabschluss hatte ich kaum Kontakt zu Frauen und natürlich auch keine Freundin.

„Nach der Schule wollte ich einfach nur weg. An einen Ort, an dem niemand meinen Namen kennt"

Auch sonst hatte ich nur wenig Freunde und fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Nach der Schule wollte ich einfach nur weg. An einen Ort, an dem niemand meinen Namen kennt. Doch das war nicht der einzige Grund, warum ich Ägypten verlassen wollte: Meine Eltern hatten fast ihr gesamtes Gehalt für meine Ausbildung an einer britischen Privatschule in Alexandria ausgegeben. Ich wollte ihnen keine finanzielle Last mehr sein. Stattdessen wollte ich mein eigenes Leben finanzieren. Also zog ich nach Marburg, um dort Pharmazie zu studieren.

In Marburg fühlte ich mich von Anfang an unwohl. Als ich mein Studium begann, fragten mich andere Studierende, was ich denn hier suche, wenn ich doch so schlecht deutsch spreche. Solche Kommentare hörte ich zwei- bis dreimal die Woche. Trotzdem trafen sie mich jedes Mal wie ein Schlag: Wenn eine Person etwas Verletzendes zu mir sagte, schaute ich auf den Boden und sagte nichts. Damals verstand ich nicht, dass solche Kommentare rassistisch waren. Obwohl ich in Marburg meinen ersten Sex und meine erste Liebesbeziehung hatte, ging es mir dort die meiste Zeit schlecht. Ich war schon in Ägypten nicht glücklich gewesen, aber jetzt hatte ich schlimme depressive Phasen, in denen ich nicht mehr leben wollte. In meiner Zeit in Marburg habe ich zweimal versucht, mich umzubringen.

„Berlin fühlte sich vom ersten Tag wie meine Heimat an"

Mein Leben hat sich erst verändert, als mein älterer Bruder nach Berlin gezogen war und ich ihn dort besuchte. Berlin fühlte sich vom ersten Tag wie meine Heimat an. Egal ob in Ägypten oder Marburg, ich war mein ganzes Leben lang das schwarze Schaf gewesen. In Berlin war ich plötzlich ein schwarzes Schaf unter vielen schwarzen Schafen. Es war okay, dass ich ein Außenseiter war, weil fast jede Person, die ich traf, in ihrem früheren Leben ein Außenseiter gewesen ist.

Berlin wurde zu meinem Zufluchtsort. Ich nutzte jeden freien Tag, um dorthin zu fahren. Irgendwann entwickelte ich zwei Persönlichkeiten: In Marburg war ich der schüchterne Ägypter, der kein Wort rausbringt, wenn er blöd angemacht wird und in Berlin war ich der coole Typ, der schwarze Klamotten trägt und sich nicht mehr für seinen vernarbten Arm schämt, sondern stolz auf ihn ist. Ich wurde süchtig nach dem Menschen, der ich in Berlin sein konnte. Ich begann, Frauen auf Tinder zu daten. Einmal datete ich ein Mädchen namens Nora. Sie war eine gebürtige Berlinerin und redete unglaublich schnell. Heute glaube ich, dass sie auf Speed war. Sie zeigte mir, wie eine echte Berlinerin die Nacht verbringt. Wir tranken zusammen „Sterni“ und klauten aus einem Späti Pueblo-Tabak. Dann trafen wir ihre Freunde an der Spree. Es war genauso wie im Film „Victoria“. Sonntagmorgens ging ich zusammen mit der Gruppe feiern. Im Berghain.

„Ich habe in dieser Nacht im Berghain gesehen, dass auch ein anderes Leben möglich ist"

In meiner ersten Nacht im Berghain war ich die meiste Zeit alleine. Die Gruppe hatte ich schnell verloren. Aber das machte nichts. Ich war genug mit den Bildern beschäftigt, die auf mich einschossen. Ich sah große, schwule Machomänner, die im Lederoutfit zu hartem Industrial tanzten und Frauen im durchsichtigen Body, die auf der Unisex-Toilette eine Line Koks zogen. Dabei schoss mir eine Frage immer wieder durch den Kopf: Wie können diese Menschen nur so selbstbewusst und frei sein?

Ich habe in dieser Nacht im Berghain gesehen, dass auch ein anderes Leben möglich ist, als ich es in Marburg oder Ägypten gelebt habe. Dass man sich von anderen Menschen nicht zurückziehen muss, sondern zusammen mit ihnen feiern kann. Seitdem ich vor zweieinhalb Jahren nach Berlin gezogen bin, lebe ich dieses Leben. Ich gehe jedes Wochenende feiern und lerne jedesmal neue Freunde kennen. Letzte Woche bin ich Samstagnacht auf einen Rave und erst Dienstagnacht wieder schlafen gegangen. Ich kenne in der Berliner Partyszene inzwischen so viele Leute, dass ich immer von einer guten Party weiß, auf die ich gehen kann. Auch während Corona.

Auf Partys nehme ich eigentlich immer Drogen: Ketamin, Amphetamine, G, LSD. Dafür trinke ich kaum Alkohol. Sie gehört zwar zu den gefährlichsten Drogen überhaupt, ist aber, anders als die Drogen, die ich konsumiere, sozial total akzeptiert. Von außen mag sich mein Leben wie das eines Junkies anhören und ich weiß auch, dass der Drogenkonsum nicht gut für meine Gesundheit ist. Aber ich habe mein Leben gut unter Kontrolle und arbeite seit neun Monaten in einem Finanzunternehmen in Berlin. Darauf bin ich stolz.

Vor einem Jahr bin ich Vater geworden. Lily**, die Mutter meines Kindes, habe ich auf Tinder gematched. Nach unserem dritten Date waren wir praktisch zusammen. Sechs Monate später sagte sie mir, dass sie glaube, dass sie schwanger sei. Das war zwei Tage nachdem ihre Periode hätte kommen sollen. An dem selben Tag machte sie einen Schwangerschaftstest. Er war positiv.

Ich wollte nicht wahrhaben, dass Lilly wirklich schwanger war. Ich hab sie am selben Tag dazu gebracht, sich fünfmal hintereinander testen zu lassen. Jeder Test war positiv. Am nächsten Tag gingen wir zum Frauenarzt. Er bestätigte die Schwangerschaft. Ihre Hormonspirale war verrutscht.

Lily war sich nicht sicher, ob sie das Kind wollte. Also kämpfte ich die Wochen darauf dafür, dass sie abtreibt. Ich redete auf sie ein und sagte ihr, dass ich mich nicht um das Kind kümmern könne. Ich war einfach nicht bereit für ein Kind und hatte große Angst davor, auf einmal Vater zu werden. Damals habe ich noch in einer Bar gearbeitet, ich hatte den Status meines Visums noch nicht geregelt und hatte keinen festen Wohnsitz. Die Monate bis zu Lilys Entscheidung gehören zu den schlimmsten meines Lebens.

„Ich sagte ihr, dass ich kein Full-Time-Dad sein kann und wir keine glückliche Bilderbuchfamilie werden würden"

Als Lily mir sagte, dass sie das Kind wolle, hatte ich großen Respekt vor ihrer Entscheidung. Aber ich fühlte mich auch von ihr übergangen. Ich hatte das Gefühl, mit den Konsequenzen einer Entscheidung leben zu müssen, die sie ohne mich getroffen hatte. Ich sagte ihr, dass ich kein Full-Time-Dad sein kann und wir keine glückliche Bilderbuchfamilie werden würden. Ich fühlte mich nicht bereit dafür und wollte auch nicht in diese Rolle gedrängt werden.

Wir blieben trotzdem erstmal zusammen. In den ersten sieben Monaten ihrer Schwangerschaft blieb Lily so schlank wie immer. Es war nicht zu sehen, dass sie ein Kind bekommt. Also hoffte ich immer noch, dass sie doch nicht schwanger ist. Als in den letzten zwei Monaten Lilys Bauch auf einmal sichtbar anschwoll, traf es mich dann hart. Ich distanzierte mich innerlich von ihr und zog in eine WG. Bis zur Geburt meiner Tochter führten Lily und ich eine On-Off-Beziehung.

Am Tag vor der Geburt meiner Tochter ging ich ins Berghain um mich abzulenken. Ich hatte Lily gesagt, dass sie mich anrufen solle, wenn die Wehen kommen. Im Club nahm ich nicht viele Drogen, nur ein bisschen Ketamin und Speed. Als um acht Uhr Abends mein Telefon klingelte, trank ich erstmal eine Stunde lang nur Wasser um klar zu werden und fuhr dann mit dem Uber zu Lily nach Hause. Sechs Stunden später wurden ihre Wehen so stark, dass wir ins Krankenhaus fahren mussten. Um zehn Uhr Früh wurde meine Tochter geboren. Als ich sie sah, waren all die Ängste, die ich in den Monaten zuvor durchlitten hatte, mit einem mal vergessen. Ich wusste plötzlich, dass ich meine Tochter in meinem Leben haben wollte und beschloss, zu Lily und dem Baby zu ziehen.

„Heute bin ich Teilzeit-Papa"

Trotzdem leben Lily und ich heute wieder getrennt. Die ersten sechs Monate nach der Geburt waren zu hart für mich. Ich war mit dem Leben als Familienpapa überfordert und wurde wieder depressiv. Vier Monate nach der Geburt meiner Tochter zog ich wieder aus. Heute bin ich Teilzeit-Papa. Ich liebe meine Tochter über alles und versuche, sie dreimal die Woche zu sehen. Trotzdem kommt es manchmal vor, dass ich mein Kind eine Woche lang nicht sehe und stattdessen auf einen Rave gehe. Ich weiß, dass das egoistisch ist. Aber ich will meine Tochter nur dann sehen, wenn ich mich voll und ganz auf sie einlassen kann. Das geht nur, wenn ich auch auf meine eigenen Bedürfnisse achte. Nur wenn ich auf nichts verzichte, kann ich der Vater für sie sein, den sie braucht.”

*Kali will seinen richtigen Namen nicht im Netz lesen, deswegen haben wir ihn geändert. Der Redaktion ist der richtige Name aber bekannt.

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