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Befreiung von der Sprachlosigkeit

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Auf Spurensuche vor dem KZ Großrosen. (Foto: Tiberius-Film) Der Film: Winterkinder- Die schweigende Generation Das lernen wir: Manche Fragen werden offen bleiben. Jens Schanze macht Filme. Zu diesem Handwerk gehört immer auch Fragen stellen. Sich selbst und anderen. Für seinen Dokumentarfilm „Winterkinder – Die schweigende Generation“ stellte er eine Frage an seine Mutter, über die Rolle ihres Vaters in der NS-Zeit. Diese Frage wurde innerhalb der Familie jahrzehntelang verdrängt und verschwiegen, und lastete doch auf den zwischenmenschlichen Beziehungen. Auf Familienfeiern und im Alltag - ständig die Angst jemandem zu nahe zu treten oder zu verletzen, auch 50 Jahre nach dem Tod des Großvaters. Das lähmende Schweigen ist jedoch kein Einzelschicksal. Ein weiterer Grund für den Film, so Schanze, war eine Emnid-Umfrage aus dem Jahr 2002, nach der fast die Hälfte aller Deutschen glaubt, dass ihre eigenen Vorfahren dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstanden. So führt das kollektive Verdrängen zur Legendenbildung. Exemplarisch veranschaulicht der Film die Sprachlosigkeit, die 60 Jahre später immer noch in vielen Wohnzimmern der Republik herrscht. So begibt sich Schanze auf die Spur des Großvaters, was letztlich auch die Suche nach der eigenen Identität beinhaltet. Jens Schanze hat seinen Großvater nie kennen gelernt. Vielleicht ist der Abstand nötig, hilfreich ist er sicherlich nicht. Neben den Gesprächen mit seinen Eltern und den Schwestern bleiben ihm nur Briefe, Fotos und der Gang in die Archive. Doch die Akten, die er dort findet, sagen nicht viel aus. Ein wenig ratlos hält Schanze sie in den Händen, am Ende ist der Erkenntniswert minimal. Der zeitliche Ablauf ist verloren gegangen, nur noch fragmentarisch nachzuweisen. Beispielsweise auf mikroverfilmten Ausgaben der Zeitung „Grenzwacht“, welche die ideologischen Verbrechen des Großvaters protokollierte. Er war Ortsschulungsredner im schlesischen Neu-Rodau, schrieb und sprach Hetzpropaganda gegen Juden und England. Auf den Fotos aus den Privatalben sieht man den Großvater in SA-Uniform, als Verbindungsstudent und als Familienvater. Schanzes Blick ist ambivalent. Eine explizite Verurteilung findet nicht statt. Dafür hat der Film harsche Kritik einstecken müssen. Doch ‚Winterkinder’ kann kein wirklicher Dokumentarfilm sein, dafür ist er zu persönlich. Man merkt es an den schüchternen Fragen aus dem Off, den unsicheren Blicken der Familie in die Kamera. Trotzdem macht Schanze keinen Halt vor den Tränen der Schwester oder der Mutter. Viele der Schnittbilder zeigen Vorhänge, eine prima Metapher für die Verwirrung, in die man taucht, wenn man sich auf die Suche nach der eigenen Herkunft begibt. Einen Zugang zu finden ist hier ebenso schwer, wie die Orientierung zu bewahren. Und man merkt: Es ist eben nicht so einfach wie in der Geschichtsstunde des ZDF. Dort wird immer ein dramatischer Streicherchor eingeblendet, wenn einer der Schurken zu sehen ist, Guido Knopp hält den Zuschauer fest an der Hand. Der Film ist eine Reise durch das winterliche Deutschland, besucht Stationen in der Kindheit der Mutter: Der Gang durch das verschneite KZ Großrosen, das nur wenige Kilometer entfernt von der ehemaligen Wohnung liegt. Überall noch Flecken und Spuren auf der Biographie. Und überall die Frage nach der Mittäterschaft und der Mitwisserschaft. Das böse Wort kommt spät im Film, erst nach einer halben Stunde. Nazi. Ob der Großvater einer war, fragt Schanze. Dazu gibt’s erst mal Schweigen von den Eltern. Der Vater sagt, dass das wohl formal zutreffe. Die Mutter fände es schöner, wenn Schanze Nationalsozialist sagen würde. Hält sich an der Terminologie fest, wenn nichts anderes mehr hilft. ‚Darüber’ reden ist für sie immer noch ein bisschen wie Verrat am Vater. Aber es befreit. Am Ende fährt die Familie nochmals gemeinsam nach Großrosen und Neu-Rodau. Man redet miteinander und weint miteinander. Es ist Sommer geworden, ein bewusstes Stilmittel. Viele Antworten gab es nicht, für die Familie Schanze. Dafür aber die Befreiung aus der Sprachlosigkeit.

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