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Umzug ins Dorf: Die Flucht von der Stadt aufs Land ist egoistisch
Das Jahr 2020 hat auch gezeigt: Es ist wichtig, dass man sich im eigenen Zuhause wohlfühlen kann, wenn draußen Infektionsgefahr herrscht. In der Corona-Pandemie wurde das Landleben plötzlich attraktiver als beengte Mietshäuser in der Stadt. In unserem Schwerpunkt zum Thema Landleben widmen wir uns diesem neuen Sehnsuchtsort – mit all seinen schönen, aber auch anstrengenden Seiten.
Weg vom Feinstaub, hin zum Geruch nach Pferd und Kuh. Gerade jetzt, da das beengende Corona-Jahr hinter uns liegt und die Pandemie unser Leben auf unbestimmte Zeit weiter bestimmen wird, ist ein Umzug aufs Land eine reizvolle Idee. Noch zieht es die meisten Jüngeren in die Städte, die Chancen bieten, an denen es in der Provinz fehlt. Laut einer Befragung des Umfrageinstituts Civey hat Corona aber den Wunsch, aufs Land zu ziehen, verstärkt. Geht man nach einer Studie des Umfrageinstituts Kantar/Emnid von 2019, träumen 60 Prozent der unter 40-Jährigen vom Leben auf dem Land und nur 40 Prozent vom Leben in der Stadt. Und nicht erst seit dem vergangenen Jahr gehören #landliebe und #landlust zu den Hashtags hunderttausender Instagram-Posts.
Es ist ja auch verständlich: Ein WG-Zimmer, das Büro, Schlafzimmer und Fitnessstudio zugleich sein muss, tut auf Dauer niemandem gut. Dazu kommt, dass Wohnraum in vielen größeren Städten immer teurer wird. Wie schön wäre es da, wenn man fliehen könnte. Zum Beispiel nach Wiedenborstel, nach Kleinbockedra oder nach Fischbach-Oberraden, wo jeweils weniger als 100 Menschen leben. Gegenden, in denen der Nachbar Hallo sagt, die Miete niedrig ist und die Luft rein.
Das Landleben passt nur auf den ersten Blick perfekt zum hippen, naturverbundenen Lebensstil
Nur: So einfach ist es nicht. Denn auch wenn das Leben auf dem Land auf den ersten Blick perfekt zum zeitgemäßen Lebensstil zwischen Veganismus und Naturverbundenheit passt, ist es ein ziemlich egoistischer Traum. Denn er brummt bei aller Romantik anderen die Kosten dafür auf.
Zunächst einmal kostet ein Leben auf dem Land meist mehr Fläche und damit natürlichen Lebensraum als in der Stadt. Natürlich gibt es diejenigen, die das alte Häuschen von Opa geerbt haben und es wieder in Schuss bringen wollen. Es gibt auch den Freundeskreis, der in den alten Bauernhof nach Ost-Brandenburg zieht, um darin eine Kommune zu gründen. Aber das sind wohl eher Ausnahmen: Trotz des vielen Leerstands wird in der Provinz viel mehr gebaut, als nötig wäre, wie eine Studie des Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) erst 2019 festgestellt hat. Das ist gleich ein mehrfaches Problem: Die Dorfkerne, in denen bereits reichlich Häuser stehen, veröden weiter. Und das neue Einfamilienhaus hinter der Kuhweide nimmt der Natur Platz weg. Wer neu baut, der sorgt dafür, dass Flächen versiegelt werden, was ohnehin schon in rasantem Tempo geschieht.
Anders sieht es etwa in Dresden-Gorbitz oder in München-Neuperlach aus, wo die Menschen in Fünfzehn-Geschossern leben. Schon klar, ein Plattenbau ist nicht für alle die erste Wahl. Und es ist ein Privileg, sich für eine hübschere Umgebung entscheiden zu können. Aber egal ob freiwillig oder unfreiwillig – ein Leben im Hochhaus ist für die eigene Klimabilanz sinnvoller als ein Leben im Reihenhaus. Das gilt natürlich auch für großstadtnahe Vororte und lässt sich auf ganze Städte übertragen: Je dichter besiedelt eine Stadt ist, desto geringer ist der CO2-Ausstoß pro Kopf, das zeigte schon eine Studie von 2009, in der Forscher*innen der Oxford University eng und weniger eng bebaute US-amerikanische Städte miteinander verglichen haben.
Das sind nicht die einzigen Kosten, für die die Gemeinschaft aufkommen muss, damit Menschen auf einem dünn besiedelten Landstrich ihre Träume verwirklichen können. Denn wer in die Pampa zieht, darf Ansprüche stellen. Zum Beispiel darauf, dass ein Schulbus nahe der eigenen Haustür hält. Man muss keine Mathematik-Nobelpreisträgerin sein, um zu überschlagen: In der Stadt, wo mehr Menschen auf weniger Raum zusammenleben, sind die Kosten für die Erschließung der Infrastruktur deutlich günstiger pro Kopf. Auf dem Land müssen für weniger Menschen mehr Busse beauftragt, mehr Glasfaserkabel verlegt und mehr Strommasten errichtet werden. Und was nützt es, wenn Jüngere in der Stadt immer öfter auf ein Auto verzichten wollen, dann aber aufs Dorf ziehen, wo es ohne eigenes Fahrzeug kaum geht?
Das alles heißt natürlich nicht, dass man diejenigen, die auf dem Land leben, aus Kosten- oder Nachhaltigkeitsgründen in Sachen Infrastruktur vernachlässigen kann oder sollte. Doch den Landbewohner*innen bringt der Zuzug aus der Großstadt auch hier nur wirklich etwas, wenn die Neuankömmlinge sich nicht in irgendeinem Neubaugebiet oder auf einem einsamen Fleckchen am Waldrand niederlassen, sondern im Dorf. Aber ob es dort, zwischen geschlossenem Friseur-Laden und rissigem Putz, instagramable genug ist?
Das Landleben lässt sich auch in die Stadt holen
Die Alternative zum Umzug aufs Land, nämlich in der Stadt zu bleiben, obwohl man es nicht will – das mag recht ernüchternd sein. Aber ernüchternd ist es für viele ja auch, auf ein Steak oder Fernreisen zu den Malediven zu verzichten. Und so wie bessere Zugverbindungen durch Europa eine Lösung für das flugschamige Fernweh sein könnten und Beyond-Meat-Burger eine Lösung für den Heißhunger auf den Geschmack von tierischem Eiweiß, so ist es längst keine Utopie mehr, dass man auch das Wohnen in der Stadt weniger beengt und grau machen kann, wenn es schon nicht günstiger geht.
Die Ideen für Städte mit mehr Lebensqualität sind längst da. Die Pariser Bürgermeisterin etwa plant mit der Kampagne „Paris neu erfinden“, die Stadt so umzuplanen, dass sie fast schon dörflich wird. Auf im Moment noch betonierten Plätzen sollen schon bald kleine Wälder wachsen. Leerstehende Häuser und Einkaufstempel sollen Platz für die Bürger*innen bieten. Erst kürzlich schwärmte die Pariser Korrespondentin der New York Times, das Radfahren in der Stadt sei seit kurzem eine „peak experience“, eine Spitzenerfahrung.
Der Wunsch nach einem Leben auf dem Land ist zurzeit so nachvollziehbar wie vielleicht noch nie. Mit einem auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Leben lässt er sich aber längst nicht immer vereinen. Da hilft es, sich die Vorzüge der Stadt ins Gedächtnis zu rufen, die nach der Pandemie ganz sicher zurückkehren werden: etwa ein dichtes Nahverkehrsnetz, Kultur und Gastronomie vor der Haustür. Den ersehnten Geruch nach Pferd und Kuh nimmt man auf einem Tagesausflug sowieso viel intensiver wahr.