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Wir nannten ihn Darius Müll
Eigentlich war ich froh, dass es nicht mich traf. Ich kannte niemanden, meine Grundschulklasse hatte sich zerstreut, und ich meinte, schiefe Blicke auf die bunten Strickpullis zu bemerken, die ich immer noch so gedankenlos trug. Alles war plötzlich größer, waschbetonfunktionskalt und unpersönlicher, die Lehrer, die Räume. Fachleute nennen das Sichfremdfühlen nach dem Wechsel auf eine weiterführende Schule „Sekundarstufenschock“. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, nicht automatisch zu einer Klasse dazuzugehören.
Aber es traf Darius. Er wurde derjenige, der nie dazugehören durfte. Und wahrscheinlich nur, weil er noch eine Spur fremder war als ich mit meinen Strickpullis. Darius hatte diesen unaussprechlichen polnischen Nachnamen, der geschrieben so verknotet aussah, wie sich die Zunge anfühlte, wenn man sich bemühte, ihn richtig auszusprechen. Die Lehrer bekamen es nicht hin. Wir bemühten uns erst gar nicht. Wir nannten ihn Darius Müll. Das klang so ähnlich und war fünfmal gemeiner.
Ich nannte ihn auch so. Nicht sofort, glaube ich, aber bald und dann ganz selbstverständlich. Ich machte Scherze über Darius, irgendwann baute ich sie zu einer Dauerschleife aus, in den Pausen fragten mich die starken Jungen der Klasse, ob ich „einen neuen Darius-Witz“ erzählen könnte, irgendeinen abgewandelten Ostfriesenwitz, den wir alle kannten.
„Warum nimmt Darius einen Stein und eine Schachtel Streichhölzer mit ins Bett?"
"Mit dem Stein wirft er das Licht aus, mit den Streichhölzern sieht er dann nach, ob er auch wirklich getroffen hat.“
Ich dachte nicht daran, wie verletzend das war. Ich war viel zu erstaunt darüber, dass nicht ich derjenige war, auf den man eintrat. Ich war nicht der, der mit allem anfing, aber einer, der die Munition nachreichte. Ganz munter, ohne darüber nachzudenken.
Ich glaube, manchmal verspürten wir eine regelrechte Lust am Gemeinsein, irgendeinen sadistischen Kitzel, einige von uns mehr, andere weniger. Man wagt kaum, es sich einzugestehen. Aber es kann so irre viel Spaß machen, nach den Worten und Gesten zu suchen, die am meisten wehtun.
Die Lehrer machten es nicht besser. Einmal sprachen wir in der Klasse darüber, warum wir Darius nicht integrierten. Der Klassenlehrer versuchte, Verständnis für beide Seiten aufzubringen. Was fatal war.
„Darius mischt sich immer in alles ein“, sagte jemand. Unser Lehrer nickte. Das Einmischen, sagte er zu Darius, könne man ja ändern. Darius nickte auch. Ich wüsste nicht, dass er sich je in irgendwas eingemischt hätte. Nicht mehr als ich. Aber haften blieb: Es ist auch seine Schuld, dass wir ihn nicht mögen. Die Sympathieverweigerung hat ihre Berechtigung.
Irgendwann beging Darius den großen Fehler, sich beliebt machen zu wollen. Er brachte ein Büchlein mit, das er seinen Eltern aus dem Schlafzimmer geklaut hatte, darin freizügige Bilder irgendwelcher Frauen und Männer.
Die Jungs bildeten eine Traube und starrten auf die Seiten. Darius war der Star der Pubertierenden. Am nächsten Tag hatte er unter all denen, die selbst noch geglotzt hatten, den Ruf des fiesen Lüstlings weg. Vor dem Sportunterricht in der Umkleide zogen einige von uns ihm die Hosen runter und warfen ihm Exhibitionismus vor. In den Pausen auf dem Gang schubste man ihn mit voller Wucht auf die Mitschülerinnen. Die angerempelten Mädchen schimpften: „Darius, du bist ekelhaft.“
Warum passiert so was? Weil es sich richtig anfühlt, wenn es alle machen, vor allem diejenigen, zu denen man aufschaut? Weil man immer irgendwie sagen kann, dass es nie so gemeint war?
Ich halte mich für überlegt, kollegial. Jemand zu sein, der draufhaut, passt nicht zu meinem Selbstbild. Ich hatte nie das Gefühl, so zu sein. Umso verstörender wirkt diese Erinnerung. Ich weiß nicht, wo ich noch geschmunzelt habe und wann es mir zu drastisch wurde. Richtig leid tat mir alles erst viel später, als Darius längst nicht mehr auf unserer Schule war. Es scheint, als wäre die Empathie einfach lahmgelegt, manchmal über Jahre, solange nur genügend andere mitmachen.
Heute frage ich mich, ob man das, was wir Darius angetan haben, wiedergutmachen kann. Oder ob jeder Versuch späteren Bedauerns nur alte Wunden aufreißt. Wie lange nach der Schule tun diese Demütigungen noch weh? Was machen sie mit einem?
Ich habe Darius gegoogelt und ein Hochzeitsbild auf den Standesamtseiten meiner alten Heimatstadt gefunden. Laut Facebook, wo ich ihm nach mehr als zehn Jahren Schweigen eine Freundschaftsanfrage geschickt habe, gefällt Darius der Film „Stirb langsam“, in einem Posting regt er sich darüber auf, dass Deutschland so viel Entwicklungshilfe zahle. Ich denke insgeheim: was für ein Prolet! Und plötzlich kommen mir, nur vage, aber doch schon böse genug, Gedanken, für die ich mich sofort schäme. Ich überlege, ob es Darius nicht doch zu Recht traf damals. Ob mein Wunsch nach Wiedergutmachung überhaupt angemessen ist. Warum kann unser Mobbingopfer mir Reumütigem nicht den Gefallen tun, wenigstens ein cooler Typ geworden zu sein? Und wieso denke ich das, woher kommt diese Gehässigkeit, die da in mir schlummert? Ich habe den Impuls, die Freundschaft wieder zu beenden. So wie ich früher nicht mit ihm befreundet sein wollte. Der Anfang der Schikane.
Wahrscheinlich entspringen unsere Vorurteile und Antipathien einfach einem Bauchgefühl. In der Schule, leider wohl auch noch später, vielleicht sogar für immer. Man kann sie nur klug oder weniger klug managen und sich mit aller Vernunft dagegenstemmen, dass man ihnen verfällt.
Ich habe Darius bei Facebook geschrieben. Ich habe ihn gefragt, ob er mir erzählen möchte, wie das damals war, in dieser Hölle, die unsere Klasse gewesen sein muss. „Gesehen: 23.42 Uhr“, teilt Facebook mir mit. Eine Antwort bekomme ich nicht.
Text: bernd-kramer - Illustration: Gabriel Holzner