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Die Schlange wird immer länger, sie reicht schon bis rüber an die Bäckertheke. Tobias Kemper ist das egal. Er steht in Pulli, Anzughose und schwarzen Lederschuhen hinter der Kasse in seinem Dorfladen. Gerade hat er zwei Bierknacker und eine Mettwurst abgewogen, jetzt will der Kunde zahlen. Er holt sein Geld hervor und – während er bezahlt – auch seine Sorgen: Er klagt über seinen Arbeitgeber, der vor ein paar Wochen keine Löhne mehr gezahlt hat, gleichzeitig aber den örtlichen Fußballverein weiterhin gesponsert hat. Tobias hört aufmerksam zu, lässt den Mann ausreden. Keine Eile, Schlange hin oder her.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Tobias Kemper an der Theke seines Shop&Snacks

„Warum hast du mir denn nicht früher was gesagt?“, fragt er dann. „Wenn der Landkreis Emsland da finanziell helfen soll, bin ich der Letzte, der bei einer Abstimmung die Finger für die Unternehmer hochstreckt. Hältst du mich nun auf dem Laufenden?“ Der Kunde nickt, die Falte auf seiner Stirn glättet sich ein bisschen. Er nimmt seine Tüte und verabschiedet sich.

Tobias Kemper, 27, ist Besitzer des Dorfladens im 800-Einwohner-Dorf Apeldorn bei Meppen in Niedersachsen: „Shop & Snack ... der etwas andere Laden“ an der Hauptstraße, die eigentlich die einzige richtige Straße im Ort ist. Ein Dorfladen ist selten einfach nur ein Laden. Er ist Gerüchteumschlagplatz, Ärger-auffangbecken, Tratschtantentreff. Der Dorfladen hat eine Bedeutung, die über das Einkaufen hinausgeht – und wenn man diese Bedeutung verstehen will, gibt es dafür wohl keinen besseren Ort als Tobias’ Laden. Denn Tobias Kemper ist nur zur einen Hälfte Dorfkrämer. Zur anderen ist er Politiker. Er sitzt seit 2011 im Stadtrat von Meppen und im Kreistag des Landkreises Emsland. Er hätte diese Ämter wahrscheinlich nicht, wenn er nicht jeden Samstag hinter der Wursttheke stünde. Und er stünde nicht jeden Samstag hinter der Wursttheke, wenn er nicht in die Politik gegangen wäre.

Eigentlich, sagt Tobias, wolle er die Politik aus seinem Laden heraushalten. Aber das gelingt ihm nicht immer. Er gestikuliert, als wäre seine Ladentheke das Sprecherpult im Bundestag, auch wenn er gerade das Geld für zwei Packungen Eistee kassiert. Er wird lauter, wenn ein Kunde wieder mal spöttisch anmerkt, dass die Liberalen ja nicht mehr im Bundestag seien. Dann erklärt Tobias, dass er sich von der Bundes-FDP distanziert und an das glaubt, wofür die Partei ursprünglich stand: „dafür, die Menschen nicht zu kontrollieren, sondern jeden seine eigenen Entscheidungen treffen zu lassen“.

Die Politik verfolgt Tobias, ob er gerade Kisten mit frischen Brötchen stapelt oder die Kaffeemaschine repariert. Vor zwei Jahren haben sich verschiedene Kunden an ihn gewandt – der Verkehr an der Hauptstraße nahm immer mehr zu, und das ist für die Kinder im Ort eine Gefahr. Tobias hat daraufhin Radaranlagen beantragt. Ein halbes Jahr später wurden an der Hauptstraße die ersten Autofahrer geblitzt.

Um an der Kasse Diskussionen, vielleicht sogar Streit zu vermeiden, nimmt Tobias Kunden mit Redebedarf mit in den Imbiss nebenan. „Da haben wir mehr Ruhe, und wenn es um Politik geht, ist man schnell bei Grundsatzfragen“, erklärt er. Zeit nimmt er sich für jeden. Das lohnt sich, fürs Geschäft wie für die Wählerstimmen. Es ist wie bei den Spitzenpolitikern: Sobald der Wahlkampf beginnt, ziehen sie durchs Land, stellen sich auf Dorfplätze und beißen gemeinsam mit dem Bürger in Wurstsemmeln, um Verständnis und Volksnähe zu signalisieren. Manchmal funktioniert das sogar. Aber was für sie Ausnahmezustand und Pose ist, das ist für Tobias Alltag. Er hat den Wurstbrötchenfaktor in sein Leben eingebaut.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Ohne seine politischen Ambitionen würde Tobias heute vermutlich gar keine Lebensmittel verkaufen. Eigentlich machte er nach der Realschule eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann in einem Möbelgeschäft in Meppen, danach das Fachabitur. Für Politik hat er sich schon in der Schule interessiert, er wollte sich engagieren. Für welche Partei, das sollte der Wahl-O-Mat herausfinden. Der schlug die FDP vor. Mit 19 trat Tobias ein. Ohne reiches Elternhaus oder ambitionierte Karrierepläne in der Wirtschaft. Sein Vater ist Zimmermann, seine Mutter Hausfrau. Gerade als er mit seinem Zivildienst fertig war und wieder in seinem Ausbildungsbetrieb anfangen wollte, wurde seine alte Grundschule in Apeldorn geschlossen. Das war 2010. Das Backsteingebäude, eingerahmt von Kirche, Pferdekoppel und noch mehr Backsteinhäusern, sollte abgerissen werden. Ein Parteifreund wusste, dass sich Tobias gern selbstständig machen wollte, und schlug ihm vor, dort einen Laden aufzumachen. Tobias zögerte: Sollte er das Risiko eingehen? Auf die Sicherheit einer festen Anstellung verzichten? Ende der Neunzigerjahre hatte im Dorf das letzte Lebensmittelgeschäft geschlossen, wie zu jener Zeit ganz viele in Deutschland. Allein von 2000 bis 2007 mussten 17 000 solcher Läden in Deutschland aufgeben. Tobias wagte es trotzdem.

Die nächste Einkaufsmöglichkeit liegt fünf, die Kleinstadt Meppen zehn Kilometer entfernt. Ohne Auto unmöglich zu erreichen. Ein Grund für den Laden. „Und der Dorfkern wäre endgültig lahmgelegt gewesen. Man hätte sich nicht mehr getroffen, außer auf dem Schützenfest oder zum Osterfeuer“, sagt Tobias. Er träumte davon, dass das Dorf, in dem er aufgewachsen ist, lebendig bleibt, dass es einen Ortskern behält, an dem sich die Menschen treffen, an dem sie reden.

Jetzt ist das Realität: Wo früher der Schulhof war, parken heute Hausfrauen und Rentner für ihren Einkauf. Im Pausenraum werden keine Schulbrote mehr getauscht, heute machen hier Lastwagenfahrer Rast und essen Gyros oder Currywurst. Draußen auf dem Rasen stehen mehrere Getränkeanhänger, auf einem ist ein Foto einer Frau, die sich ihr nasses T-Shirt über die Schultern zieht.

Nach dem großen Sterben der kleinen Geschäfte gab es in den vergangenen Jahren eine Renaissance des Dorfladens. Sie beruht auf derselben Nostalgie, die zum Beispiel auch den Erfolg der Einzelhandelskette Manufactum ausmacht. Der Tante-Emma-Laden – beziehungsweise die romantische Vorstellung davon – ist ein Symbol für Qualität, für Handgemachtes, für Produkte mit Seele. Für „das Gute“.

Bei Tobias klingelt kein Glöckchen über der Eingangstür, wenn jemand den Laden betritt. Es gibt keine mechanische Waage, keine Bonbongläser, kein nostalgisches Blechschild. Stattdessen wird über der Bäckertheke für die günstigen Brote am „Spar-Dienstag“ geworben. Daneben gibt es Kaffee für einen Euro. Vor dem Kühlregal mit Milch und Joghurt stehen Wasser- und Bierkästen, es gibt Beileids- und Glückwunschkarten, Zigeunersoße im Glas, „Fette Brühe“-Würfel, Lesebrillen und die „Bild der Frau“. Auf dem Fenster steht ein Geschenkkorb mit Spritzgebäck und Gutsleberwurst, an der Kasse warten Zigaretten und das „Liederbuch Meppener Rathausglocken“. „Nostalgie ist schön und gut“, sagt Tobias, „aber ich habe keinen alten Laden übernommen, sondern einen neu eingerichtet. Da wäre es künstlich gewesen, auf alt zu machen.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Inzwischen gehören ihm drei Läden in und um Meppen und ein Getränkeservice für Partys. Demnächst eröffnet er in einem Nachbardorf einen Getränkemarkt. Begonnen hat er mit zwei 400-Euro-Kräften, heute ist Tobias Chef von zwanzig Mitarbeitern. Um seinen Laden herum ist etwas gewachsen. In das alte Schulgebäude sind noch eine Physiotherapiepraxis, ein Friseur und die Kirchengemeinde gezogen. Über der Praxis ist der Dachstuhl offen und nur mit einer Plane bedeckt, die im Sturm raschelt, ein Kran steht hinter dem Gebäude. Dort werden Sozialwohnungen gebaut.

In Apeldorn wird wieder investiert, junge Paare suchen Bauplätze. Die Apeldorner danken Tobias Kemper das. Sie kaufen viel, manche alles, was er im Angebot hat, nur bei ihm, auch wenn sie das Glas Nutella dann 2,99 Euro kostet statt 2,39. Sie haben es sicher auch mit ein paar Wählerstimmen gedankt. Tobias stellt das ungern in einen Zusammenhang, aber Tatsache ist: Ohne vorher ein politisches Amt gehabt zu haben, wurde er 2011 in den Stadtrat und in den Kreistag gewählt. 2013 hat er bei den Landtagswahlen in Niedersachsen kandidiert. Die FDP hatte damals die schlechtesten Umfragewerte ihrer Geschichte, trotzdem holte Tobias in seinem CDU-dominierten Wahlbezirk knapp 50 Prozent der Stimmen. Für so ein Wahlergebnis kann man eine Schlange an der Kasse schon in Kauf nehmen.

Text: kathrin-hollmer - Foto: Sarah Rubensdörfer

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